Theaterskandal in Leipzig

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Am Donnerstagabend feierte im Leipziger Centraltheater Anton Tschechows "Kirschgarten" Premiere. Eine Inszenierung des Intendanten Sebastian Hartmann.

Ja gut, auf den ersten Blick bleibt der Skandal aus bei der Premiere am Donnerstagabend im Leipziger Centraltheater. Es gibt verhaltenen Beifall, zwei, drei Jauchzer von Kollegen. Nach vier Vorhängen ist aber Schluss, sind vier Stunden inklusive Pause vergangen, bleibt dem Kulturbürgermeister Michael Faber die Spucke weg und dem Schauspiel bald sein ehemaliges Publikum fern, denn zu diesem Zeitpunkt ist der Altersdurchschnitt im Saal bereits gesunken - nach einer Szene mit Nacktem (sagt man bei einer Stunde noch Szene?) und minutenlanger ohrenbetäubenden Ballerei. Dabei sind das eigentlich gute Szenen, hinter denen Ideen leuchten. Sicher, mit Hose wär' es auch gegangen.


Beim Schlussapplaus aber fehlt nicht irgendein Schauspieler, sondern das Zugpferd des Intendanten Sebastian Hartmann: Thomas Lawinky. Die Jüngeren werden sich erinnern: Spiralblock-Affäre. Lawinky entreißt FAZ-Kritiker Stadlmeier aus Gründen die Aufzeichnungen, seine Intendantin distanziert sich, Lawinky hat freie Spitzen und Hartmann mit ihm einen Macbeth für seine Magdeburger Inszenierung. Diese sieht 2008 Leipzigs damaliger, Intendant-suchender Kulturbürgermeister Georg Girardet. Und nun also Tschechow, "Kirschgarten", die Älteren werden sich erinnern. Doch als 12 Schauspieler sich verbeugen, fehlt Lawinky, hat vorzeitig die Bühne verlassen, das Haus. Ein Statement.


Theatergänger wissen inzwischen, dass, obwohl Tschechow drauf steht, nicht Tschechow drin sein muss, wenn der Intendant, Jahrgang '68, selbst Hand anlegt. Der Jung-68er hat viele Fragen an die Welt, leidet unter Klimaerwärmung und, wenn man seinen Interpretationen folgt, an Schwermut in Tateinheit mit Selbstzweifeln. Nicht die schlechtesten Voraussetzungen für den Umgang mit Klassiker-Stoffen. Wenn es denn um den Umgang ginge. Es geht aber um Selbstdarstellung, und die sieht so aus:
Auf der Bühne ein Vorortalptraum von Eigenheim, in dem die Garage mehr Raum einnimmt als das Wohnzimmer; davor Beton auf Rasen, ein Tisch, 13 Stühle (Kirschbaumholz?). Die Bewohner haben ihr Kommen angekündigt, aus Paris reisen sie an, das Grundstück mit Kirschgarten steht zum Versteigerung und eine Lebensart zur Disposition. Doch darum geht es hier nicht. Hier nehmen 12 Apostel des Weltuntergangs Platz (und ein Gitarrist, Musik: Steve Binetti), sie teilen sich in die Charaktere, Rollen, Textfragmente. Da nimmt Hartmann die Komödie ernst. Wie jeden Abend 200 Meter weiter in der Theaterkneipe gruppieren sich die Protagonisten um die Quelle der Hoffnungen und Sehnsüchte. Einer hält es nicht mehr aus, andere glauben. "Da wohnt man nun schon in einer Gegend, wo es jeden Moment anfangen kann zu schneien, und dann diese Gespräche!" Ja, so kann man das Aneinandervorbeireden ins Heute holen,

Die Stimmung kippt nach allen Seiten, ferner spielen mit: ein Lada, ein Rollkoffer, ein brennender Rosenstrauß; Text ist zu erkennen, aber egal. Individuen spielen keine Rolle. Einzelkämpfer sind wie Primzahlen, auf die Spitze getrieben im uniformierten Sprechchor. Schon sind anderthalb Stunden vorbei, und wer glaubt, dieser erste Teil sei nur mäßig gelungen, wird sich noch wundern.


Es könnte um den scharfen Grat an der Schnittstelle von Vergangenheit, Zukunft, Gegenwart gehen. Um die Frage: Was treibt mich um, was voran, und wohin? Es könnte um vermeintliche und um echte Freiheit gehen, um den Anspruch an Gemeinschaftlichkeit und die Feigheit, sich Abhängigkeiten zu entziehen. Zu sehen aber sind Posen. Dies ist besonders schade, weil die Schauspieler, vor allem die Männer, nicht nur mit allem Einsatz, sondern auf höchsten Niveau agieren. Maximilian Brauer spielt einen Hofnarren, der - ganz gleich, ob auf Drogen oder in unverhohlener Verzweiflung, - sich die Seele aus dem Leib jagt. Leider mangelt es dem Regisseur an Humor, das komödiantische Talent Brauers auf einen doppelten Boden zu stellen. Auch Manuel Harder (mit gebrochenem Fuß), Peter-René Lüdicke, Holger Stockhaus beherrschen die Improvisation der Sinnsuche. Sie haben die Mittel, aber kein Ziel. Das bleibt bis zum ersehnten Schluss vage, weshalb dem einen Schluss noch einer folgt und dann noch einer und ... Am Ende Jahrmarkt mit Klau aus der Kiste.


Mit Frauen weiß Hartmann wenig anzufangen. Die verbleibenden vier, nachdem Theaterpreisträgerin Anita Vulesica vor etwa zwei Wochen ihre Kündigung quittiert wurde, dürfen als nacktbeinige, derbe Hysterikerinnen dem Stück nur beiwohnen. Wobei Rosalind Baffoes Besetzung als schwarzhäutige Femme fatale billigste Effekthascherei ist, so wie überhaupt Bilder dominieren. Hartmann hat ein Händchen für Stimmungen. Den Heile-Welt-Small-Talk-Ball deutet er als Wild-Ost-Gemetzel, in dem alle mehrfach klischeehaft sterben, bis eine Art Katerstimmung die mit sich und allem Kämpfenden ermüdet bis zur Jammerei. Neben Gewalt als Zeichen der Zuwendung arbeitet er eine allgegenwärtige Angst heraus, Angst vor der eigenen Courage, vor dem freiwilligen Glück in heiler Familie, Angst vor Heimatverlust und Zukunft. Es graut vor der Wirklichkeit mehr als vor den Geistern aus dem Jenseits. Die reale Liebe ist unbegreiflich, nicht die Phantasie. Da sprechen alle mit einer Stimme, was einerseits konsequent ist, andererseits langweilig. Hartmann ironisiert seine eigenen Ängste bis zum Zynismus. Das minimiert die Idee, die er da treffend illustriert. Agit-Prop weicht Weinerlichkeit. Was soll das heißen?

Tschechows herausgestellte "Erzählung eines Künstler" wäre ein Gedankengewinn versprechender Ausgangspunkt. Als Ergebnis präsentiert, steht sie im Schatten naiver Bedeutungshuberei. Es sind vor allem die mit hohem Preis bezahlten Visionen des Studenten Trofimov ("Ich stehe über der Liebe"), die Hartmann mit hohem Pathos deklamieren lässt. Wie aufrichtig ist dagegen die Mehrfachrolle Brauers als Guts-Narr, der letztendlich als Überbringer der schlechten Nachricht dran glauben muss.
So gern der Regisseur hier einen Spiegel halten will, es wirkt doch oft wie's Staunen des Narziß.
Was ist nun der Skandal? Publikum und Schauspieler so arg zu unterschätzen. Lawinky hat sich dem entzogen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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