Zeitenwende ohne Kantenwechsel

Wort des Jahres Bemänteln, was ist: Diese „Zeitenwende" gleicht der Wende im Eiskunstlauf, bei der es darum geht, auf der gleichen Kante vorwärts und rückwärts zu laufen. Der Begriff Wende ist so harmlos, wie er schon 1989 Quatsch war.

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Man kann es drehen und wenden: Das „Wort des Jahres“ bleibt ein Ärgernis. Mal ist es zu absehbar, mal zu abseitig, und immer ist es das falsche. „Zeitenwende" ist Jahressieger 2022, das war zu erwarten. Wie groß Heiterkeit oder Enttäuschung wohl zu Beginn der Sprachbilanz - bei der Wahl von „aufmüpfig“ 1971 - waren, lässt sich von hier aus nicht beurteilen. Auf den Plätzen zwei bis vier lagen damals „Junktim“, „Umweltschutz“, „Nostalgie“ und „heiße Höschen“. Muss eine putzige Zeit gewesen sein in der Bundesrepublik so zwischen Vietnamkrieg, „Wir haben abgetrieben“ und Haarnetz-Erlass. Die RAF überfiel Banken und erschoss Menschen. Also die echte. Die nach ihr benannte „Klima-RAF“ hat jetzt das Zeug zum Unwort des Jahres 2022.

In der DDR jedenfalls wurde 1971 Walter Ulbricht als Erster Sekretär des SED-Zentralkomitees von Erich Honecker abgelöst und ein Transitabkommen mit der BRD unterzeichnet. Wäre ein „Wort des Jahres“ gewählt worden, hätte es sich um einen Euphemismus handeln müssen, der irgendwie den VIII. Parteitag bemäntelt. Der Plakatspruch „Unser Kompaß für ein glückliches Leben" gab da nicht viel her, weil ein Kompass auch in Richtung Westen wies. Bis zur „Wende“ sollten noch 18 Jahre vergehen und weitere bis zum Wikipedia-Eintrag „Wende und friedliche Revolution in der DDR“.

Bemänteln, was ist

Lauter falsche Wörter. Auch „Mauerfall“ gehört den Synonymen für einen Wandel, der eben keine Wende war, wie man sie von der Schwimmerei kennt – einer Disziplin, in der der Osten Erfolge feierte. Auch sportlich. Was ebenso für den Eiskunstlauf zutrifft. Hier definiert das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache die Wende als „eine Figur, bei der ein Bogen auf der gleichen Kante vorwärts und rückwärts ausgeführt wird“.

Ohne Kantenwechsel die Laufrichtung zu ändern, kommt der „Zeitenwende“ à la Olaf Scholz schon recht nahe. Sein „Doppel-Wumms“ steht übrigens auf Platz vier der zehn Finalisten und ist zwar genauso Quatsch wie der Rest, nämlich absehbar und abseitig, lässt aber den, nach allem, was man weiß: amtierenden Bundeskanzler plötzlich sprachmächtig erscheinen. Obwohl er so viel gar nicht spricht, geschweige denn sagt.

Eine Zeitenwende markiert den Beginn von etwas Neuem, die Einordnung drängt sich erst im Rückblick auf. Eine Zeitenwende auszurufen, ist als halber Wumms so harmlos, dass sich viele darauf einigen wollen. „Alle große politische Aktion besteht im Aussprechen dessen, was ist, und beginnt damit“, hat Ferdinand Lassalle gesagt. „Alle politische Kleingeisterei besteht in dem Verschweigen und bemänteln dessen, was ist.“ Die Sprache der Politik beherrscht beides, die Wörter des Jahres markieren es.

Die Wörter des Jahres 2022

1. Zeitenwende
2. Krieg um Frieden
3. Gaspreisbremse
4. Inflationsschmerz
5. Klimakleber
6. Doppel-Wumms
7. neue Normalität
8. 9-Euro-Ticket
9. Glühwein-WM
10. Waschlappentipps
Quelle: Gesellschaft für deutsche Sprache e.V.

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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