Zeit für Veränderungen

Martin Suter In seinem jüngsten Roman "Die Zeit, die Zeit" entwirft Bestsellerautor Martin Suter ein faszinierendes, auch beängstigendes Gedankenspiel. Und bricht es ab.

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Man sieht Albert Knupp sein Alter nicht an. Er hat eine Menge machen lassen: Straffen, Glätten, Färben. 82 Jahre ist er alt, vor 20 Jahren starb seine Frau Martha. Das soll sich ändern.

Der alte Knupp würde die Zeit zurückdrehen, wenn es sie denn gäbe. Also ignoriert er sie. „Die Zeit vergeht nicht, alles andere vergeht. Die Natur. Die Materie. Die Menschheit. Aber die Zeit nicht. Die Zeit gibt es nicht.“ Sagt Knupp, der nur ein Indiz dafür akzeptiert, dass die Zeit vergeht: die Veränderung. Also macht er sie rückgängig, die Veränderungen, die sichtbaren jedenfalls. Ein großer Plan.

Für die einem fiktiven Walter W. Kerbeler und dessen Standardwerk „Der Irrtum Zeit“ untergeschobenen physikalisch-philosophischen Theorien bedient sich Suter beim echten Henry Salles, dem Erfinder der Gravimotion. Es ist ein faszinierender, auch beängstigender Gedanke, dass, wenn alles – Wohnzimmer, Garten, Albert Knupp – wieder exakt so aussieht wie am 11. Oktober 1991, auch Martha wieder da ist, die damals noch nicht an Malaria gestorben war.

Doch was folgt dann, am Tag danach? Wacht Knupp mit Martha 21 Jahre später auf? In welcher Zeit leben die Nachbarn, die er von seinem 91er-Wohzimmer aus sehen kann? Suter löst das Problem mit einem finalen Kniff, der abgegriffen ist und zudem ärgerlich, weil hier ja Literatur erst beginnt: mit einem phantastischen Angebot, was wäre, wenn. So aber führt das zuvor auf knapp 300 Seiten Gelesene zu nichts Zwingendem. Zwingend aber sollte doch sein, was Roman-Figuren handeln lässt.

Eigentliche Hauptfigur ist Peter Taler. Nachbar Knupps. Ein Buchhalter, dessen Frau Laura vor einem Jahr vor der Haustür erschossen wurde. Auch Taler kann nicht ins Leben zurückfinden, erlebt jenen Abend, als er Pasta kochte und auf Lauras Klingeln wegen einer Nichtigkeit nicht rechtzeitug öffnete, immer und immer wieder. Er deckt den Tisch für zwei und brennt ihre Zigaretten ab. Vielleicht, glaubt er, wird er erlöst, wenn ihr Mörder gefunden ist.

Dabei kann Knupp ihm helfen. Der Preis: Taler unterstützt ihn bei der Verjüngung der Häuser, des Gartens, der Straße. Das fängt beim Baumfällen an und hört bei der Beschaffung der 21 Jahre alten Autos in Originallackierung nicht auf. Dafür braucht es kriminelle Energie und ein starkes Motiv, beides entwickelt Taler, und er ist es auch, der im Verlauf des Romans erkennt und handelt, während Knupp in seiner Besessenheit statisch bleibt, verloren an eine Idee. Und doch auch gerettet durch die Arbeit an ihre Umsetzung.

„Die Zeit, die Zeit“ ist Martin Suters zehnter Roman in fünfzehn Jahren. Spannende Unterhaltung bietet auch dieses Buch, sieht man ab von den arg detaillierten Schilderungen der Wiederherstellung eines verlorengegangenen Moments und mit ihren Scharnieren allzu offen liegenden Konstruktionen.

Sein bester Roman ist es nicht. In „Ein perfekter Freund“, „Lila, Lila“ oder auch „Der letzte Weynfeldt“ zeichnet der 64-Jährige Schweizer Bestsellerautor skurrilere Figuren und Nebenfiguren mit mehr Handlungsspielräumen in absurderen Situationen. Bekanntes überraschende Wendungen nehmen zu lassen, Vertrautes zu überspitzen wie in den „Business Class“-Kolumnen ist da seine Stärke. Hier scheint es umgekehrt.

Martin Suter: Die Zeit, die Zeit. Roman. Diogenes Verlag 2012; 298 Seiten, 21,90 Euro

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Geschrieben von

kay.kloetzer

Kulturtante in Leipzig.

kay.kloetzer

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