Die Grenzen winden sich

"Grenzen überwinden" Das viel kritisierte Motto der diesjährigen Einheitsfeier gibt Anlass, unser Bild von Grenzen zu überdenken. Plädoyer für einen europäischen 'tre ottobre'

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Grenzverwischung: Kiosk vor dem "Bootsfriedhof" auf Lampedusa
Grenzverwischung: Kiosk vor dem "Bootsfriedhof" auf Lampedusa

Foto: K. H. Eller

Das Motto der diesjährigen Einheitsfeierlichkeiten wird manchem Festredner einen rhetorischen Eiertanz abverlangen. „Grenzen überwinden“ taugt derzeit nicht als Überschrift zur behaglichen Erinnerung an die schillernden Momente der friedlichen Revolution. Zu offenkundig sind die Widersprüche zu den Bildern erneuter Grenzkontrollen und physischer Grenzsicherung in Europa. Zu irritierend wirken gegenüber diesem Slogan die viel beschworenen „Kapazitätsgrenzen“. Zudem weckt das Motto auf den Tag genau schmerzliche Erinnerungen. Der „tre ottobre“ ist in Italien zur Chiffre für das verheerende Schiffsunglück vor nunmehr zwei Jahren geworden, bei dem mehr als 350 Schutzsuchende wenige Meter vor der Küste Lampedusas den Tod fanden. Was für Italien ein Weckruf war, betraf im Kern Europa. Nicht als italienisches Eiland, sondern als Vorposten Europas hat Lampedusa tragische Bedeutung erlangt. Es ist die zentrale Lehre der vergangenen Jahre, dass sich in vermeintlich lokalen Begebenheiten Leitlinien der europäischen Flüchtlingspolitik spiegeln.

Beide Erinnerungen, an 1990 und 2013, halten uns Grenzen vor Augen, die wir zeitlich oder räumlich weit entfernt wähnten. Doch Grenzen zu öffnen, heißt die Augen zu öffnen: sie können nur „überwunden“ werden, wenn ihr Verlauf bekannt ist. Um alte und neue Grenzen in Landstreifen, Rechtsregeln und Köpfen aufzuspüren, müssen wir den 3. Oktober mit seiner Symbolkraft in diesem Jahr mehr denn je in den Dienst Europas stellen.

In den vergangenen Wochen sind Grenzen zunächst nicht überwunden, sondern verschoben worden. Das prekäre, unerbittliche Gesicht der europäischen Flüchtlingspolitik zeigt sich nicht mehr nur an den Außengrenzen. Es dorthin auszulagern, war das unausgesprochene Ziel des Schengen-Systems mit seinem Zweiklang aus Abbau der europäischen Binnengrenzen einerseits und Abschottung der Außengrenzen andererseits. Er ging so selbstverständlich ins europäisch-deutsche Selbstverständnis ein, dass Bilder havarierter Flüchtlingsboote kaum als Gegenpol innereuropäischer Freizügigkeit erkannt wurden. Zäune, Gräben und gefährliche Seewege wurden von Brüssel verlangt, aber lokal verantwortet. Dieser stillschweigend hingenommene modus operandi der europäischen Flüchtlingspolitik erodiert nun angesichts drastisch steigender Zahlen von Asylsuchenden. Die Binnengrenzen kehren zurück, besonders drastisch im Fall der 71 Flüchtlinge, die im LKW bei der Überfahrt von Ungarn nach Österreich vermutlich erstickten. Es ist eine eigentümliche, selektive Grenze, die für EU-Bürger kaum wahrnehmbar ist, für Asylsuchende jedoch den entscheidenden Orientierungspunkt bildet. Denn nach der Dublin-Verordnung bleibt die Einreise nach Europa national definiert. Das Ersteinreiseland ist für das Asylverfahren zuständig und verleiht auf sein Staatsgebiet beschränkt den Flüchtlingsstatus. „Dublin“ kennt keine Flucht nach Europa, nur eine Einreise in den jeweiligen Mitgliedstaat, auf den der Flüchtling dauerhaft festgelegt wird.

Hinter jeder Grenze warten somit neue Grenzen. Es sind sich windende Konstrukte. So viele man auch überwunden hat, die relevanten Grenzen verlaufen immer woanders. Werden die Außengrenzen brüchig, erstarken die Binnengrenzen. Werden auch diese durchlässig, um etwa großen Flüchtlingsgruppen die Weiterreise von Budapest nach München zu ermöglichen, bringt die Flüchtlingsdebatte alsbald neue Grenzen hervor. Besonders prominent derzeit: die Differenzierung zwischen politisch Verfolgten und sogenannten „Wirtschaftsflüchtlingen“, zwischen universell anerkannten und als egoistisch bewerteten Fluchtmotiven. Das Vierteljahrhundert seit der Deutschen Einheit ist Mahnung genug, den „Mauern in den Köpfen“ nicht weniger Bedeutung beizumessen als solchen aus Stein. Jede überwundene Grenze scheint weitere zur Entstehung zu bringen. Hier greift das Motto zur Einheit ebenso zu kurz wie „no borders“-Parolen. Ganz ohne Grenzen geht es nicht im demokratischen Verfassungsstaat, mahnte Udo di Fabio jüngst in der FAZ.

Welchen Typus von Grenze wir jedoch gedeihen lassen und welchem wir entgegentreten, lässt sich gemeinschaftlich beeinflussen. Dazu bedarf es eines angemessenen Verständnisses von Grenzsetzungsprozessen. Die neue Vielgestaltigkeit von Grenzen zeigt, dass diese nicht als scharfe Trennlinien begriffen werden können. Sie bilden vielmehr komplexe soziale Räume, die in einem permanenten Prozess über Zugehörigkeiten entscheiden: sei es auf Lampedusa, am Münchener Hauptbahnhof oder in den Abstufungen des frisch reformierten Asylrechts. Die Grenzen der Flüchtlingsdebatte verlaufen nunmehr vor unseren Augen und können „gesellschaftlich“ geprägt werden. In der Folge des „tre ottobre“ haben es die Lampedusaner abgelehnt, das Selbstbild als Außenstelle einer „Festung Europa“ zu verinnerlichen und entgegen ihrer zugeschriebenen Rolle eine Solidarität entwickelt, die der italienische Journalist Fabrizio Gatti als des Friedensnobelpreises würdig bezeichnete. Gewiss, eine Zivilgesellschaft, die sich an Grenzen zu schaffen macht, wird mit Beharrungskräften rechnen müssen – auch insofern ist 1990 lehrreich. Für den Anfang bietet sich eine von der Einheitsfeier selbst gezogene Grenze an. Das Land Hessen lädt auf den Frankfurter Römerberg zum „Bürgerfest“ – refugees welcome?

Mitautoren: Julia Lemke, Janna Weßels, Nele Weßels und Florian F. Woitek

Die Autoren haben als studentische Initiative über sechs Jahre hinweg die europäischen Außengrenzen bereist und von dort berichtet. Sie sind Doktoranden verschiedener Fachbereiche an deutschen und ausländischen Hochschulen.

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