Als der französische Dichter François-René de Chateaubriand im Juni 1807 von einer knapp einjährigen Rundreise durch das östliche Mittelmeer zurückkehrte, war er ernüchtert. Ein paar Jahre zuvor hatte er das Christentum für sich entdeckt, dessen Frühgeschichte er auf seiner Reise nun erkunden wollte. Sicher, einige Monumente waren beeindruckend, auch einige Landschaften wirkten recht anmutig. Aber der biblische Mythos war gebrochen, die Szenerie frühchristlichen Glaubensfeuers einer Moderne gewichen, deren nervöse Rhythmen von ganz anderen Zeiten kündeten, als jenen, auf deren Spuren der Dichter zu wandeln hoffte. „Ich werde“, schrieb er darum in seinen 1811 veröffentlichten Aufzeichnungen, „vielleicht der letzte Franzose sein, der mit den Ideen, dem Anliegen und den Gefühlen eines alten Pilgers ins Heilige Land aufbrach.“
In seiner Enttäuschung zeichnete Chateaubriand den Orient in wenig freundlichen Farben, was ihm vor allem in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht nur freundliche Kommentare einbrachte. Und doch lohnt es, Chateaubriand zu lesen. Denn er wies auf einen Umstand hin, den die ihm folgenden Generationen nur allzu gern übersehen haben, und der erst jetzt, in Zeiten des arabischen Frühlings, wieder ins allgemeine Bewusstsein getreten ist: Dass nämlich das südliche Ufer des Mittelmeers alles andere ist als eine mythendurchsetzte Landschaft, bevölkert angeblich von einem Menschenschlag, der unwillens ist, sich jedem Weltbild zu öffnen, das von der Lehre der Propheten, Künder, Glaubensstifter nur in Nuancen abweicht. Chateaubriand deutete es an: Der Orient hat die Spannungen und Zerwürfnisse der Moderne auf besonders tragische, besonders brutale Art erfahren, in einem Sturm permanenter Umwälzungen, dem die Idyllen früherer Zeiten (so es sie denn jemals gegeben hat) nicht einen Moment standhalten konnten.
Seit Napoleon 1798 in Ägypten einmarschierte und damit das „Große Spiel“ der europäischen Kolonialmächte im und um den Nahen Osten eröffnete, ist der Orient ohne sein geographisches, kulturelles und politisches Pendant, den Okzident, nicht mehr zu denken. Der amerikanische Politologe Samuel Huntington hatte recht: An den südlichen Ufern des Mittelmeeres prallten zwei Zivilisationen aufeinander – bloß, dass dieser Clash nur vermeintlich ein religiöser war. Wer genauer hinschaute, konnte hingegen schwerwiegende politische und ökonomische Erschütterungen ausmachen. Dass sie in die Sprache der Religion übersetzt und mit entsprechenden Begriffen gedeutet wurden – das machte einen Teil der nahöstlichen Dramen der letzten Jahrzehnte aus.
Idealistische Grundlage
Allerdings nahm man auf der nördlichen Seite des Meeres diese Sprache bereitwillig auf. Sie entsprach ihrer Neigung, die Dinge unter dem Vorzeichen von Sinnfragen zu diskutieren, aus der Perspektive materieller Sorgen weitgehend Enthobener, die sich zumindest im Hinblick auf den Nahen Osten mehr für den Über- als den Unterbau interessieren, und Fragen des Bewusstsein allemal mehr abgewinnen können als denen des schnöden Seins. Nur auf dieser idealistischen Grundlage konnten die nicht abreißenden „Islamdebatten“ solchen Raum gewinnen und die Aufmerksamkeit von allen übrigen Phänomenen ablenken, die man in der arabischen Welt noch hätte beobachten können – allen voran die Diskussionen unter säkularen Vorzeichen.
Begonnen hatten diese bereits im frühen 19. Jahrhundert. An Schwung gewannen sie, als die europäischen Schifffahrtsgesellschaften auch die großen arabischen Häfen in ihre Fahrpläne aufnahmen. 1835 eröffnete die Linie Marseille – Algier, drei Jahre später die von London nach Alexandria. An Bord dieser Schiffe gingen auch viele arabische Intellektuelle, die sich einen Eindruck vom Leben in Europa verschaffen wollten. Zu den ersten dieser Reisenden gehörte der Ägypter Rifâ´a Rāfi´ Badawī Al Tahtāwi. 1826 traf er als Leiter einer vierzigköpfigen Delegation in Paris ein. Ihr Auftrag: die politischen und wissenschaftlichen Institutionen des Landes zu studieren und Antworten auf die Frage zu finden, warum der Orient technisch und militärisch so schwach, der Okzident hingegen so stark sei. Sehr bald wurde Al Tahtāwi klar, dass ein Teil der Antwort auch im intellektuellen Klima der Zeit zu finden sei, einem Klima, das er als beunruhigend offen empfand. „In den philosophischen Wissenschaften“, notierte er, „haben die Franzosen manch irreführendes Füllwerk, das im Widerspruch zu sämtlichen Offenbarungsreligionen steht, und darauf bauen sie Beweise auf, die schwer zu widerlegen sind.“
Diese Erschütterung war die Geburtsstunde der „Nahda“ – der arabischen „Renaissance“ oder „Wiedergeburt“, einer vor allem in Kairo und Beirut präsenten Bewegung, die den Islam mit der westlichen Moderne zu versöhnen suchte, und sich durch radikale Selbstkritik kennzeichnete. „Zweifellos“, schrieb Al Tahtāwi, „lebt unsere Nation in ihrer Apathie wie eine Hammelherde. Geben wir unseren Egoismus auf, unseren Jähzorn und Übereifer, denken wir über die Gründe der deprimierenden und elenden Lage nach, in der sich die arabischen Länder befinden.“
Doch die „Nahda“ blieb ein Elitenprojekt – und musste unter den gegebenen Umständen auch eines bleiben. Die wachsende Verschuldung gegenüber den westlichen Staaten, eine bestenfalls schleppend vorankommende Industrialisierung, ein defizitäres Bildungssystem: Solche Umstände waren schwerlich geeignet, blühende Landschaften entstehen zu lassen, die Menschen für die Moderne westlichen Zuschnitts zu begeistern.
So blieb die Region ländlich geprägt – und lieferte jene grandiosen Bilder, mit denen europäische Literaten ihr Publikum begeisterten. „Oh düsterer Maghreb“, schrieb der französische Dichter Pierre Loti 1890 anlässlich einer Reise nach Marokko. „Bleibe möglichst lang noch verschlossen und den neuen Dingen unzugänglich. Wende Europa den Rücken zu und verharre in der Vergangenheit. Schlafe weiter, fahre fort in deinem alten Traum, damit es wenigstens noch ein Land gebe, in dem die Menschen ihr Gebet verrichten können.“
Kein Massencredo
Dieses Bild hat sich bis heute zumindest in Teilen erhalten. Trotz all der Schiffe, Flugzeuge und Glasfaserkabel, die es durchziehen, verbindet das Mittelmeer zwei Ufer, die noch immer keine gemeinsame Sprache sprechen. Oder besser: Von denen das eine, das nördliche, die Äußerungen des südlichen nur selektiv zur Kenntnis nimmt. Es ist erstaunlich: Während die westlichen Gesellschaften ihre eigene Entwicklung auf hohem, ja höchstem Niveau diskutieren, komplexe soziologische und politische Argumente selbstverständlicher Bestandteil aller öffentlichen Debatten sind, blieben entsprechende Argumente im Hinblick auf die arabische Welt lange Zeit die Ausnahme. Vielleicht ist eine ernsthafte Diskussion erst zu Beginn dieses Jahres, mit den arabischen Revolutionen, in Gang gekommen. So sehr hatte man sich angewöhnt, im Orient das „Andere“ zu sehen, dass man dessen säkulare Kräfte kaum wahrnahm, es auch nicht für nötig hielt, sich mit ihnen zu befassen. Hätte man es getan, hätte man erregende Erfahrungen machen können – allen voran die, wie gut zumindest gebildete Araber über die westliche Welt informiert sind. Wer etwa einmal eine Buchhandlung in Beirut besucht hat, kann kaum anders, als die dort gepflegte Vielsprachigkeit zu bewundern. Ganz selbstverständlich liegen französische, englische und arabische Titel nebeneinander, springen Verkäufer und Kunden zwischen den drei Sprachen hin und her, durchblättern sie Bücher in arabischer und lateinischer Schrift mit der gleichen Lässigkeit. Hier liegen sie aus, die Bücher eines Georges Corm, eines Samir Kassir, eines Ferhat Mehenni oder eines Abdallah Laroui – der großen arabischen Historiker, Soziologen, Kulturwissenschaftler, die einen nüchternen, ganz und gar säkularen Blick auf ihre Länder und deren Verhältnis zum Westen werfen.
Natürlich sind ihre Bücher auch in der arabischen Welt keine Bestseller. Aber sie bieten einen Blick auf jene Kräfte, die die Bürger der westlichen Welt seit einem knappen halben Jahr mit ungläubigem Erstaunen zur Kenntnis nehmen – Kräfte, die mit den alten Topoi des Gegensatzes von Orient und Okzident nichts mehr anfangen können und wollen, und die die Missstände ihrer Länder in scharfer Form ansprechen. „Wir haben uns lange Zeit für besser gehalten als die Europäer,“ schreibt etwa die tunesische Publizistin Hélé Béji. „Aber selbst haben wir seit unserer Unabhängigkeit niemals jenes Gerechtigkeitsideal angewandt, dass die Zivilisation uns vorenthalten hatte. Wir haben so sehr die Übel der anderen durchlitten, dass wir aus ihnen keine Moral für uns selbst zu entwickeln wussten.“
Der Satz ist von 2008, gründet aber auf einer Tradition, die weit zurückreicht ins 19. Jahrhundert, einer niemals zum Massencredo gewordenen, aber doch konstant sich entwickelnden Tradition. Ihr gehören die Kräfte an, mit deren Hilfe die Europäer das Mittelmeer zu einem neuen Mare Nostrum, zu einem gemeinsam bewohnten Meer machen können – zum gemeinsamen Meer all jener, die statt auf die Mythen von gestern auf die Hoffnungen von heute setzen, und nicht vom Glauben lassen wollen, dass diese Verheißungen am Ende doch attraktiver sind als jene, die die großen Erzählungen der Vergangenheit zu bieten hatten.
Kersten Knipp beobachtet für den Freitag die Kultur des Nahen Ostens
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