Syrien ist ein Schach- und Schlachtfeld, auf dem sich hinter den in der ersten Reihe kämpfenden Bauern eine ganze Reihe Könige verbergen: Die sind in Saudi-Arabien und in Katar zu Hause, und auch, wenngleich nicht in monarchischem Gewand, in den westlichen Staaten. Alle versuchen sie die Bauern so zu lenken, dass möglichst bald der einzige direkt auf dem Feld befindliche König fällt: Baschar al- Assad. Fiele er, würden auch die Königswege gekappt, die von Iran über den Libanon bis an die Grenzen Israels reichen. Stürzt der Monarch also, wäre aus Sicht der Konkurrenz viel gewonnen: Iran wäre als Regionalmacht geschwächt, Israel müsste nicht mehr ganz so starke Angriffe von der Hisbollah befürchten, denn deren Nachschubwege wären abgeschnitten. All dies würde dazu beitragen, die Stellung Saudi Arabiens und Katars als neue – sunnitische – Regionalmächte zu stärken und ein Gegengewicht zu den schiitischen Staaten, allen voran dem Iran, zu bilden. Und Israel könnte seine Besatzungspolitik fortsetzen. Die Schlacht, die in Syrien derzeit geschlagen wird, ist also auch ein Stellvertreterkrieg, dessen Strippenzieher durchaus sehr eigene Motive verfolgen.
Black Box Syrien
Das heißt allerdings mitnichten, dass der syrische König darum auch nur noch einen Hauch von Legitimität besäße. Das hat inzwischen sogar die islamistische, aus dem Gaza-Streifen operierende Hamas erkannt. Sie hat ihr Quartier in Damaskus vor mehreren Wochen geräumt. Die Schreckensmeldungen, die aus der Black Box Syrien nach außen drängen, haben es opportun scheinen lassen, auf Distanz zu einem Regime zu gehen, dessen Gewalt keine Grenzen kennt. Knapp 14.500 Tote meldet der Syrische Nationalrat Mitte Mai – darunter 560 unter Folter gestorbene Bürger. 65.000 Demonstranten gelten derzeit als vermisst; 212.000 sind in Haft; 54.000 sind seit März letzten Jahres aus dem Land geflohen. Verlässliche Zahlen? Vielleicht nur bedingt. Andere Organisationen, wie etwa das Syrian Observatory for Human Rights nennen andere, leicht niedrigere. Sicher: Sie alle verfolgen eigene politische Ziele, denen auf ihre Weise auch die Zahlen entsprechen. Doch insgesamt dürften sie zutreffen. Wie und wo die vielen Toten gestorben sind, darüber gibt die syrische Schriftstellerin Samar Yazbek in ihrem Buch Schrei nach Freiheit. Aus dem Inneren der syrischen Revolution so anschaulichen wie erschütternden Aufschluss. Die 1970 geborene Yazbek entstammt einer alawitischen Familie mit guten Beziehungen zum Regime. Das hat ihr trotz ihrer Kritik an diesem das Leben gerettet. Im Juli letzten Jahres entschloss sie sich dennoch, ins Exil nach Paris zu gehen. Mehrmals war sie bereits verhaftet und verhört worden, aufgrund ihrer Herkunft aber immer wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Doch irgendwann hätte sie die Schergen des Regimes überreizt.
Was Samar Yazbek dann – vielleicht – widerfahren wäre, kann man in ihren Aufzeichnungen vom 10. Mai 2011 erfahren. An diesem Tag musste sie sich vom Geheimdienst verhören lassen. Sie habe sich von den Salafisten verführen lassen, wirft der ihr vor, und auch dieses läßt man sie wissen: „Du bist eine Schande für die Alawiten.“ Wie entschlossen das Regime ist, eine solche Schande nicht zuzulassen, demonstriert man ihr im Folgenden. Über steile Treppen wird Yazbek in die unteren Etagen des Gebäudes geführt. Teils stechender, teils modriger Geruch umgibt sie, erst allmählich gewöhnen sich ihre Augen an die tiefe Dunkelheit. Dann lässt man sie in die im Keller befindlichen Zellen blicken. Schon in der ersten bietet sich ein entsetzlicher Anblick: Drei junge Männer befinden sich in der Zelle. „Die Hände hingen in Eisenfesseln, ihre Zehen berührten kaum den Boden. Blut klebte an ihren Körpern, frisches Blut, trockenes Blut, tiefe Wunden zeichneten sich auf ihren Leibern ab, wie willkürlich mit einem Pinsel dahingemalt. Ihre Gesichter waren zu Boden gerichtet, sie waren bewusstlos und schaukelten hin und her wie Schlachtvieh.“ Yazbek wird in weitere Zellen schauen, allesamt voller geschundener Körper. Auch Schreie gerade Gefolterter vernimmt sie in dem Keller. Ob das Demonstranten seien, will sie von den Geheimdienstlern erfahren. „Das sind die Verräter von den Demonstrationen“, erhält sie zur Antwort.
Schwer erträglich
Yazbek zeichnet ein schwer erträgliches Bild von der Gewalt, die das Assad-Regime seinen Bürgern antut. Es ist roheste körperliche Gewalt, aber auch psychische. Zum psychologischen Druck wird man auch das Aussehen jener Typen zählen können, die auftauchen, wo immer sich eine Demonstration formiert. Es sind bedrohliche Gestalten: „Kerle mit breitem Kreuz und aufgeblähten Oberkörpern, in schwarzen Hemden mit kurzen Ärmeln, mit strammen Muskeln, tätowiert, dazu geschorene Schädel, aus denen die Kerle alles anglotzen.“ Wo kommen sie her? Yazbek weiß es nicht, einen solchen Typus kannte sie bislang nicht in ihrem Land. Offenbar setzt das Regime auch auf die Schlagkraft der Syndikate – neben den 15 Geheimdiensten, die es traditionell ohnehin unterhält.
Auch deren Mitarbeiter sind in Syrien allgegenwärtig. Sie könne sie erkennen, schreibt Yazbek, an ihrer Art sich zu kleiden, an ihrer Körpersprache. Aber ob sie alle erkennen kann? Die syrische Opposition hat auch darum so enorme Schwierigkeiten, weil ihre Mitglieder einander nur bedingt trauen können – es könnte ja ein Spitzel darunter sein. Und wo keine Spitzel im Dienst sind, da gebraucht das Regime offene Gewalt. Scharfschützen, Schläger, Folterknechte, Mörder, Verhörspezialisten, Schergen, die Apotheken zerstören und oder anzünden und Krankenhäuser heimsuchen – die Opposition soll keine Gelegenheit haben, sich zu erholen. Auch Sippenhaft ist ein beliebtes Mitteln, Oppositionelle auszuschalten. Ja, in Syrien wird auch ein Stellvertreterkrieg geführt. Aber es wird auch ein lokaler Krieg geführt. Wie das Regime dabei vorgeht, und was das für dessen Legitimität bedeuten mag – wer darüber nachdenkt, findet in Samar Yazbeks bestürzendem, unbedingt lesenswertem Buch reichhaltige Informationen.
Schrei nach Freiheit. Aus dem Inneren der syrischen RevolutionSamar Yazbek. Mit einem Vorwort von Rafik Schami, aus dem Arabischen von Larissa Bender, Nagel & Kimche 2012, 217 S., 17,90
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