Vor sich tragen sie ein breites Plakat, „Marche pour l’égalité et contre le racisme“ steht darauf, „Marsch für Gleichheit und gegen Rassismus“. Es ist nur eine Handvoll junger Menschen, Frauen und Männer, die im Oktober 1983 durch Marseille marschiert. Aber ihr Anliegen wird wahrgenommen und vor allem von vielen geteilt. Bald gehen in jenem Herbst auch in vielen anderen französischen Städten junge Migranten und Migrantinn en vor allem arabischer Herkunft auf die Straße. Von ihren französischen Landsleuten fordern sie nichts als Anerkennung und Teilhabe, zum Beispiel auf dem Arbeitsmarkt.
Im Vergleich zu den heutigen, gewaltgeschwängerten Protesten wirken die Bilder dieser Demonstrationen schockierend modern. Die Proteste jenes Jahres waren noch von der Chiffre 1968 geprägt. Entsprechend zeigten sich die Demonstranten: langes oder längeres Haar, Jeans, offenes Hemd. Aus heutiger Sicht fällt vor allem auf, was sie nicht trugen: Kopftücher, Schleier oder an die Frühzeit des Islam erinnernde Gewänder. Auch beschränkten sie ihre Forderungen auf Bürgerrechte. Von der Anerkennung ihrer religiösen Identität sprachen sie nicht. Denn die spielte für die meisten von ihnen bestenfalls eine Nebenrolle.
Die ersten religiös motivierten Demonstrationen fielen in die späten 1980er Jahre. Damals forderten arabischstämmige Migranten das Recht ein, in den Schulen eine ihrem Glauben entsprechende Kleidung zu tragen. Für das strikt laizistisch gesinnte Frankreich war das eine enorme Herausforderung. Das Zeitalter der Identitätspolitik hatte begonnen. Doch seinen Ursprung, schreibt der Politologe und Soziologe Jacques Donzelot in seinem Buch Quand la ville se défait (2006), hat es in der Weigerung vieler ethnischer Franzosen, die Araber, überwiegend Algerier, als vollständige Bürger anzuerkennen und ihnen entsprechende Chancen zu bieten. „Die jungen Migranten fühlten sich von der französischen Gesellschaft kaum aufgehoben. Integriert waren sie trotzdem – als Ausgeschlossene.“

Abb.: Dominique Faget/AFP/Getty Images
Der Wandel der migrantischen Protestkultur in Frankreich spiegelt in nuce die Mechanismen, unter denen Islamismus generell gedeiht, in Europa ebenso wie in der arabischen Welt. Auf frappierende Weise erinnert er an die ersten islamistischen Regungen in Ägypten im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Das Land am Nil ist zu jener Zeit von den Briten besetzt. Zugleich macht es Bekanntschaft mit den frühen Regungen der Globalisierung und des Kapitalismus. 1869 wird der Suezkanal eröffnet. „Mein Land ist nicht länger ein Teil Afrikas. Ich habe es zu einem Teil Europas gemacht“, jubelt der ägyptische Regierungschef Ismail Pascha anlässlich der Feierlichkeiten.
Elektrizität und Rausch
Was das bedeutet, zeigt sich zunächst in Port Said, der durch den Bau entstandenen Hafenstadt am nördlichen Ende des Kanals. Sie wird Ägyptens erste global city. „Man spricht schlechtes Italienisch mit den Arabern, noch schlechteres Griechisch mit den Franzosen und ein unmögliches Arabisch mit den Menschen aus Dalmatien“, notierte ein Zeitzeuge. Cafés und Orchestersäle werden eröffnet, doch unterhalb der Einrichtungen der Hochkultur entsteht ein zweites Port Said: das der Spelunken, des Glücksspiels, der Prostitution, der Rauschmittel. Port Said, schreibt ein englischer Beobachter, „ist der Ort, an dem Laster aus Ost und West gemeinsames Asyl finden“.
Auch in anderen ägyptischen und arabischen Städten hält die Moderne Einzug. Breite Straßen werden gebaut, dank der Elektrizität werden die Nächte heller. 1881 bringt der Publizist Abdallah Nadim eine neue Zeitschrift heraus, al-Arghul, Die Flöte. Dort schildert er das Elend der weniger Begüterten. „Nachdem er Alkohol getrunken, Haschisch geraucht und sein Bewusstsein verloren hat / nachdem er sich eine Nacht lang amüsiert und sein ganzes Geld verspielt hat / weiß der Trottel nun, was er getan hat“, heißt es über einen Tagelöhner.

Abb.: Photo12/UIG/Getty Images, Albin Guillot/Roger Viollet/Getty Images
Und noch etwas ist beunruhigend. In einer Geschichte skizziert Nadim das aufgeblasene Gehabe eines jungen Mannes, der mehrere Jahre in Paris verbracht hat. Als er zurückkehrt, will ihn sein Vater umarmen. Doch der junge Mann stößt ihn fort. Immer noch hätten die Muslime – „habt ihr Muslime“, sagt er – die abstoßende Angewohnheit, einander zu umarmen und zu küssen. Wie man sich denn sonst begrüßen sollte, fragt der verdutzte Vater. „Sagt einfach bonne arrivée, schüttelt euch die Hände, und das war’s.“ Aber er sei ein ägyptischer Bauer und habe das nie verleugnet, erwidert der Vater. „Ob Bauer oder nicht, ihr Ägypter seid wie Vieh“, entgegnet der Sohn.
Die Ägypter entfremden sich dem eigenen Land. Zudem stehen sie unter der Herrschaft der Engländer. Was tun? Der 1883 im Iran geborene Theologe Dschamal ad-Din al-Afghani, einer der führenden Intellektuellen seiner Zeit, empfiehlt die Besinnung auf den Koran. Er sei das einzige Element, das die Völker des Mittelmeers zum Aufstand gegen die Besatzer zusammenhalte.
Das stärkste Band
„Solange die Araber den Koran lesen, ist das religiöse Band stärker als das von Nationalität und Sprache“, schreibt al-Afghani in der Zeitschrift Das stärkste Band. Bemerkenswert: Es ist bis heute umstritten, ob der Weitgereiste ein wirklich gläubiger Muslim war. „Die Engländer halten mich für einen Russen, die Muslime sehen einen Zoroastrier in mir. Die Sunniten meinen, ich bin Schiit, und die Schiiten halten mich für einen Feind Allahs ... Die Deisten halten mich für einen Materialisten, die Frommen für einen Sünder bar jeder Frömmigkeit. Die Gebildeten sehen in mir einen ahnungslosen Ignoranten, und für die Gläubigen bin ich ein ungläubiger Sünder.“
Der Islamismus, zeigt sich bereits in einer seiner frühesten Regungen, kommt im Zweifel auch ohne den Glauben aus. Mehr vielleicht als alles andere ist er eine Protestbewegung, angepasst an eine bestimmte Kultur und später, in Zeiten der Migration, an ein bestimmtes Milieu. Er ist höchst flexibel und anpassungsfähig. Die 1960er Jahre, während derer er global an Fahrt aufnahm, verzeichnen die erstaunlichsten Konversionen: Nationalisten, Antikolonialisten, selbst Sozialisten: Vertreter aller nur denkbaren Ideologien werden zu Islamisten. Rachid al-Ghannouchi zum Beispiel, der Führer der heutigen tunesischen Ennahda-Bewegung: Zunächst in säkularen panarabischen Bewegungen aktiv, entschied er sich anlässlich des Machtantritts von Präsident Habib Bourguiba für den Islam als Widerstandskraft. Mit seinem radikal säkularen Programm, fand er, untergrabe Bourguiba die Identität des Landes. Sich ideologisch neu zu orientieren war alles andere als einfach, berichtet al-Ghannouchi in der Rückschau. „Man geht von einer Welt in eine andere über, von einer Ideologie, einem Wertesystem zum anderen. Es ist eine brutale Metamorphose.“
Tabu Rousseau
Und noch etwas bewog und bewegt arabische Aktivisten zur Konversion. Sie sehen im Islamismus die stärkste Kraft, um gegen die absolutistischen Regime ihrer Zeit anzugehen. Denn die Diktatoren tragen meist ein säkulares Gewand. In Ägypten legte ein laizistisch gesinnter Gamal Abdel Nasser die Grundlagen jenes Sicherheitsapparats, der bis heute dazu dient, Oppositionelle in den Kerkern des Regimes verschwinden zu lassen. In Syrien ging der junge, sich ebenfalls säkular gebende Hafiz al-Assad mit Brutalität gegen alle jene vor, die seine Herrschaft auch nur zu kritisieren wagten. Das waren vor allen die syrischen Muslimbrüder, die sich in den 1950er Jahren erstmals zusammenfanden. Und im Irak ließ Saddam Hussein ab 1979 alle dezimieren, denen er nicht trauen zu können glaubte. Vor allem auf die Schiiten hatte sich der weltlich gebende Diktator es abgesehen – also die Gruppe, die mit rund 60 Prozent den größten Teil der Bevölkerung ausmacht. Zu Hunderttausenden ließ er sie ermorden, es könnten bis zu anderthalb Millionen Menschen gewesen sein, vielleicht sogar mehr, die Schätzungen gehen auseinander.
Die Politik Saddams zeitigte ebenjenes Prinzip, das in den vergangenen Jahren auch dazu beigetragen hat, den religiösen Extremismus in Syrien voranzutreiben: Wer nur aufgrund seiner konfessionellen Zugehörigkeit bedroht ist, besinnt sich auf seine Religion, sucht Schutz bei seinen Glaubensbrüdern, anderswo gibt es keinen Schutz. Ob gläubig oder nicht, er ist gezwungen, sich religiös zu definieren. Werden Menschen allein aufgrund ihrer konfessionellen Zugehörigkeit gejagt und getötet, schnappt die religiöse Falle zu.
Zieht man die Gewalt ab, ist in gewisser Weise strukturell Vergleichbares auch in Frankreich passiert. Natürlich: Die jungen Araber waren nie bedroht. Aber zumindest in Teilen wurden sie ausgegrenzt. Diese Menschen formulierten ihre Reaktion in religiöser Sprache, einer Sprache, die sich dann zur Ideologie auswuchs. Dass unter ihnen nicht wenige sind, die überhaupt keine Chancen haben, passt ins Bild. Wenn der Islamismus sogar Sozialisten und Nationalisten hat bekehren können, dürfte er mit den in den Pariser Vorstädten Gestrandeten noch weniger Probleme haben. Drogen, Spielhallen, die Tristesse der Banlieues ebenso wie deutscher Vorstädte: Der Islamismus gedeiht auch in diesem Milieu. Soziologisch könnte man sagen, es geht um Verteilungskämpfe. Zu befürchten steht aber, dass es inzwischen um mehr geht, um kulturelle Identitäten. Werden die religiös begründet, lassen sie sich kaum mehr lösen. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut berichtet in seinem Buch L’identité malheureuse (2013) von muslimischen Schülern, die sich weigern, die Werke von Jean-Jacques Rousseau oder auch Gustave Flauberts Roman Madame Bovary zu lesen. Das vertrage sich nicht mit ihrer Religion.
Wie geht man um mit solchen Verweigerern, wie begegnet man Menschen, die sich der Republik – der „gemeinsamen Sache“, wie der Begriff ja wortwörtlich zu übersetzen ist – verweigern? Hier zeigen sich die Spätfolgen ungelöster Anerkennungskämpfe: Sie haben sich auf die Religion verlegt. Glaubensfragen sind aber kaum verhandelbar. Mag also sein, dass der radikale Islam anfänglich nur eine Form war, in die bedrängte Muslime ihre Anliegen gossen. Was aber, wenn diese Form gehärtet ist?
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.