Der Aktienbesitzer Jerry Battle (!) tut kurz vor seinem 60. Geburtstag das ihm Liebste: mit seiner kleinen Propellermaschine, dem "Schätzchen", fliegt er allein über Long Island. Er dreht seine "Schönwetterloops", und wenn er von oben sein Ranchhaus sieht, erkennt er auf dessen Dach ein X: sein Erkennungsmerkmal, das langsam verblasst. Nach der Landung steigt Jerry gewöhnlich in sein smaragdgrünen Impalo-Cabrio, fährt zu einer Party, in ein Feinschmeckerlokal oder auf den Tennisplatz.
Jerry fliegt und glaubt, mit dem sich verengenden Blick den Boden der Tatsachen verlassen zu können: den verkommenen Rest seines Lebens. Einst besaß er eine Landschaftsgärtnerei. Sein Auskommen, von den Eltern geerbt, vermehrte sich zum Reichtum und somit erfüllte sich, was man den "amerikanischen Traum" nennt. Jerry Battle lebte den Alltag des Wohlhabenden in jeder Beziehung. Sein Problem nennt er: "Dass ich für niemanden ein Rätsel bin." Nun, mit fast 60, quält er sich mit den Fiesheiten des Lebens: Vater Hank, der italienischstämmige Alt-Macho, will nicht ins Pflegeheim, wird senil und scheißt dem Sohn in die gute Stube; Tochter Theresa ist schwer krank und schwanger; der Sohn arbeitet an der Firmenpleite, und die Erinnerung an den Tod von Jerrys Frau lässt sich nicht vertreiben.
Jerry tritt uns als gewöhnlicher Mann entgegen, der genau das nicht sein möchte. Außer einer Menge Geld und angeschafftem Luxus gibt es nicht viel anderes, auch wenn er es sich einbildet. Jerry kann keine wirklichen Gefühle empfinden, weder in der Liebe, noch angesichts des Todes. Wegen seiner "Hornhaut um´s Gemüt" hatte ihn seine Freundin verlassen. Nun kurvt er in 800 Metern Höhe herum und wird von den Turbulenzen, dem Chaos unter ihm, durchgeschüttelt.
Natürlich ist diese Geschichte Stoff für Literatur. Ich allerdings habe mich schwer mit ihr getan, denn ich glaube, es ist ein Buch für jene Leser, die in dieser Upperclass-Welt zuhause sind oder deren Lebenstraum sie ist. Wer sich an "katzenhaft schnurrenden Ferraris" erfreut, wer "dekantierten Soave" trinkt, wer ausrastet vor Glück, wenn es in der Küche "einen ausziehbaren Wasserhahn überm Herd gibt, dass man das Wasser direkt in die Töpfe laufen lassen kann", wessen Problem zum Beispiel ist, dass man sich bei einer Raclette-Party die schönen neuen Nägel ruiniert und wer in allen Lebenslagen witzig und ironisch ist, der wird der Lektüre viel abgewinnen. Geschrieben ist das Buch aber leider nicht nur vom Höhenflug der Ich-Figur aus, sondern auch in Autorensicht von oben: als glitzernde Oberfläche.
Der Autor lässt Jerry selbst erzählen. Auch das halte ich für ein Problem: 450 Seiten lang dieses detailreiche, stets ironisch-pointierte Gerede von McDonalds Maxibechern, über Müllabfuhrtermine, Schweinelendchen mit Pfefferkruste und Honigrippchen, über Champagnerbrunch, Diätdrinks, Unwohlsein bis zu Gefühlsstaus aller Art. Dazu redet Jerry im flapsigen Alltagston, also mit vielen Okays, Verkürzungen, Mir-fällt-kein-besserer-Ausdruck-dafür-ein-Wortungetümen und Juppy-Sprüchen. ("Hey Jerry, was erzählst´n du da für´n Mist. Mann, ey, so´n Scheiß, ey, ich krieg echt die Krise.") Ich fühlte mich beim Lesen wie auf einer riesigen Steh-Party, und da halte ich es meistens nicht lange aus.
Gern würde ich die wirklichen Abgründe der Erfolgs-, Marken- und Partywelt erfahren, die Fallhöhen jener Leute ausmessen als eine Person, die zu diesem Leben real keinen Zutritt hat. Aber wenn zum Beispiel Jerrys exaltierte püppihafte Ehefrau Daisy ihren manisch-hysterischen Schwimmträumen im Pool erliegt, also eine tragische Figur wird, dann lässt der Autor mich das nicht sehen: weil Jerry selbst zu wenig sieht. Die Erzählerfigur bleibt in sich verhaftet. Ich habe mir bei der Lektüre gewünscht, dass mich dieser Mann irgendwann mal berührt, mir leidtut, dass ich ihn abscheulich finde oder mit ihm in wirkliche Turbulenzen gerate: wo man tief fällt und Angst hat vorm Absturz. Aber ich glaube: der Autor (geboren 1964 in Korea, Broker Creative-writing-Professor in den USA) ist einverstanden mit dieser Gesellschaft, in der ihn zwar ein Unbehagen befällt aber nicht mehr.
Unbedingt zu erwähnen ist Christa Schuenkes hervorragende Übersetzerarbeit. Ihre Fähigkeit, der amerikanischen Alltagssprache im Deutschen Lebendigkeit zu verleihen, hat mich angehalten, das Buch bis zum Ende zu lesen. Mitunter, vor allem zum Schluss hin, gewinnt die Handlung ja auch an Tiefe. Da greift die Turbulenz-Metapher: die kranke genusssüchtige Gesellschaft trudelt dem Abgrund entgegen, aber immer wird sie hochgerissen, und man fliegt weiter, irgendwie, irgendwohin.
Chang-Rae Lee: Turbulenzen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Christa Schuenke, Kiepenheuer Witsch, Köln 2004, 440 S., 22,90 EUR
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