In drei Tagen durch die ABM

Job-aktiv Manchmal helfen Arbeitslose dem Arbeitsamt, keine Arbeit zu vermitteln, die niemand will(Teil 2)

Was bisher geschah: ZET- zusammen, effizient, tatkräftig heißt das Programm, in das das Schicksal die Erzählerin verschlägt. Gemeinsam mit der Leitungsperson Frau Bauer, Martha, ihrer ABM-Leidensgenossin, und einem gewissen Herrn Trübswasser soll die Arbeitslose fortan Arbeitslosen Arbeit vermitteln. Aber bei ZET haben eigentlich alle Angst vor Arbeit. Der erste Tag endet zwischen vergilbten Vorhängen, vertraglicher Schweigepflicht und einem erwartungsvollen Sieben-Punkte-Beschluss.

Vor dem Schlafengehen beschließe ich:
1. alles aufzuschreiben
2. so wenig Zeit wie möglich dort zu verbringen
3. zu spät zu kommen
4. zu früh zu gehen
5. niemanden auszuliefern
6. das Spiel zu spielen
7. bald zu verschwinden.

Zweiter Tag

Punkt 3 misslingt. Pünktlich um acht Uhr stehe ich vor dem Raum, der unserer sein soll, und rüttele an der verschlossenen Tür. Herr Wächter, auch ein Pünktlicher, kommt aus einem der Behelfsräume, die die Beschäftigungsagentur seit dem Brand und Diebstahl vor vier Monaten nutzt, und reicht mir einen Schlüssel. Die neue Kollegin und ich, wir könnten jetzt als erste die alten, renovierten Räume wieder in Beschlag nehmen. Auf dem Türschild stehen noch die Namen der beiden Vorgängerinnen. Ich betrete einen großen Raum mit frischem kanariengelbem Linoleumboden und einer breiten Fensterwand, unter der ein diebesfreundliches Flachdach liegt.

Es gibt zwei alte Schreibtische, die Türen sind mit Paketband verklebt, zwei Drehstühle, einen winzig-schäbigen Besuchertisch und zwei Besucherstühle der gleichen Machart.

Es stinkt. Ich reiße alle Fenster auf. Es zieht. Ich schließe drei Fenster und justiere das vierte offene mit meiner Tasche. Es ist still. Ich drehe mich auf dem Drehstuhl, fahre mit dem Finger über den staubigen Schreibtisch, gehe auf dem neuen Linoleum langsam zum Waschbecken, lasse Wasser aus dem Wasserhahn fließen, öffne die weißen Einbauschranktüren und schließe sie wieder. Dann noch einmal, in laut. Ich bin im Amt. Weil meine Kollegin noch nicht da ist, treffe ich eine erste eigenmächtige Entscheidung. Mein Platz ist am Fenster, die Türen im Blick, das Draußen im Rücken.

Um das braune Paketklebeband an meinem Schreibtisch zu entfernen, hocke ich mich ins Kanariengelbe und beginne zu knibbeln. Jeder braune Streifen hinterlässt ein klebriges Grau, das sich mit viel Kraft zu kleinen Klümpchen zusammenschieben lässt, die ich zwischen Daumen und Zeigefinger zu Popeln forme und auf meinem Handrücken sammle, um sie später in der staubfreien Fingergasse auf dem Schreibtisch anzuordnen.

Ich bin eben wieder unter Tage verschwunden, als Magda die Tür öffnet. Ich erkenne ihre Schuhe und bin ganz still. Sie steht in der Tür und rührt sich nicht. Nur der Windzug bewegt ihre Hosenbeine. Denkt sie, ich sei ins Freie geflohen?

"Hallo Magda," rufe ich ihren Beinen zu und krabbele unter dem Tisch hervor, "wollen wir putzen?"

Magda guckt sich um, guckt mich an, zieht den Mantel aus, stellt die Tasche ab, krempelt die Ärmel hoch, holt Luft und entlässt sie mit einem halb geseufzten, halb geschimpften

"Ja."

"Aber eins nach dem anderen", mahnt sie die amtliche Gemächlichkeit an, verlässt mich und kehrt nach einer kleinen Ewigkeit mit zwei Tassen Kaffee zurück. Sie nimmt Platz auf ihrem Drehstuhl, schiebt mir eine Tasse zu und beginnt noch einmal von vorne.

"Guten Morgen. Wie war dein Tag gestern?"

Ich lehne mich zurück, so weit es mein einfacher Drehstuhl zulässt, lege zur Auflockerung die Füße auf die Schreibtischkante und greife nach der Tasse.

"Ja, so könnte es gehen."

"So geht es, nur so", erklärt Magda und legt auch ihre Füße hoch. An der Symmetrieachse zwischen den Schreibtischen verdoppeln wir unsere kleine Kraft.

Es klopft. Unsere Füße fallen laut aufs Gelbe. Obwohl wir beide niemand hereinrufen, öffnet sich die Tür und Trübswasser steht grinsend darin.

"Wie gefällt es Ihnen?" huschen müde die Silben aus seinem kaum geöffneten Mund.

"Es stinkt nach Amt", entfährt es mir. Er grinst einfach weiter.

Trübswasser setzt sich ans Besuchertischchen. Er will uns einweisen. Er ist seit acht Monaten in der Beschäftigungsagentur und findet "learning by doing" gut. Klar, denke ich, das spart ihm Arbeit. Von beiden Schreibtischflanken aus schießen wir unsere Fragen auf ihn ab. Wer kommt zu uns? Beraten oder verraten wir? Wem erteilen wir hierüber Auskunft? Wo finden wir Arbeitsstellen?

Ach, das sei nicht so dramatisch, wir sollen uns da mal keine Sorgen machen, das ergebe sich schon. "Viele kommen gar nicht erst," lullt Trübswasser uns weiter ein, "die schreiben wir an und beim zweiten Mal machen wir Meldung ans Amt, das ist dann erledigt für uns."

"Und für die?", fragt Magda.

"Meistens ´ne Sperre", antwortet immer noch grinsend Trübswasser.

Als wir keine Fragen mehr haben, weil wir nicht wissen, wie wir die Antworten ertragen sollen, fragt uns abschließend dieser kleine Psychologe, dem versehentlich kein Leben eingehaucht wurde, ob wir unser persönliches Ziel denn schon definiert haben.

Das fragt er uns. Magda guckt ihn entgeistert und zum Sprung bereit an. Ihre Augenbraue hebt sich in meine Richtung und gibt mir zu verstehen, dass ich das regeln soll, wenn ich ein Blutbad vermeiden will. Also frage ich höflich zurück:

"Und Sie, Herr Trübswasser, wie lautet denn Ihr Ziel?"

"Meine Zieldefinition, oh, die muss ich holen. Ich habe sie in meinem Schreibtischfach liegen. Soll ich sie holen?" Wir bitten darum, und Trübswasser geht sein Ziel holen.

"Der Typ braucht Hilfe!", ruft Magda wütend dem Entschwundenen nach. Es will ihr nicht in den Kopf, dass er wie sie Psychologe ist.

Ach, ich muss aufpassen, ihn am Ende nicht zu mögen. Aber da ist Magda vor. Sie hat ihn im Verdacht, ein Spion zu sein. Und Magda, die lange vor Glasnost aus Polen geflohen ist, hat die Antenne hierfür.

"Fragen wir ihn doch", schlage ich vor und nutze die nächste Gelegenheit:

"Stimmt es, Herr Trübswasser, dass Sie Wochenberichte bei Zusammen-Effizient-Tatkräftig abliefern? Arbeitszeiten, Tätigkeiten, Kundenkontakte etc.?"

Er guckt erstaunt.

"Wieso? Wer sagt das?"

Trübswasser bestreitet. Nein, er bereite nur die Statistik vor, wer wann von wem wohin vermittelt wurde und ob auf den ersten oder den zweiten Arbeitsmarkt.

Die Glocken der Krankenhauskapelle schlagen zwölf. Magda und ich sind bereit, die Krankenhauskantine zu testen. Der Koordinator, Herr Müller, sucht unsere Nähe und geht mit. Zwischen lauter Weißkitteln sitzen wir drei uns an einem Minitisch gegenüber, und ich zähle die Haare auf Magdas Eisbein.

Herr Müller hat nichts mehr zu verlieren. Er verlässt das Amt und die Stadt in zwei Wochen, heiratet sich raus aus der ABM. Ob ich nicht seinen Job haben wolle, fragt er mich. Ich wäre dann meine Vorgesetzte, würde aber weniger verdienen als jetzt schon. Ich lache ihm ins Gesicht. Nach dem Mittagessen gehe ich einfach nach Hause, Regel Nummer vier.

Dritter Tag

Ausgerüstet mit dem Wichtigsten, Reisewasserkocher, Löffel, Tasse und Fertig-Cappuccino, stehe ich leicht verspätet vor unserer Bürotür und schließe sie auf. Etwas ist anders. Zwei braune Papierkörbe aus Plastik, ausgeschlagen mit grauen Mülltüten, stehen wie traurige Baumstümpfe auf unserer gelben Linoleumwiese. Und auf der Ritze zwischen den beiden Schreibtischen türmen sich eine Packung Heftklammern, zwei Tischkalender, eine Schere, rot, zwei leere Leitz-Ordner, zwei Schnellhefter, grün und orange, mehrere Einwegkugelschreiber, rot, blau, grün, und ein Stapel Papier. Ich setze mich auf meinen Platz und betrachte von dort diese hingeschüttete Wundertüte.

Als Magda eine gute Stunde später in der Tür steht, sitze ich noch immer da und habe nichts angerührt. Ich führe den Wasserkocher vor, Magda packt kleine Snacks aus, und dann widmen wir uns die nächsten Stunden dem Sammeln, Kopieren, Lochen und Sortieren von Informationen. Ausgiebig studieren wir die Rubrik ›Fortbildungen‹ in Trübswassers Ordner ›Verschiedenes‹ und beschließen uns fortzubilden. Magda wählt die Bildungsmesse und einen Computerkurs, ich entscheide mich für ein Existenzgründerseminar, das am nächsten Tag beginnt.

Wir arbeiten uns durch die Anleitung der Telefonanlage und tätigen einen Anruf bei Frau Bauer, um ihr unsere Absichten mitzuteilen. Die neuen ABM-Vorschriften sehen vor, dass zwanzig Prozent der Arbeitszeit der Weiterbildung dienen sollen. Frau Bauer fragt nur: "Kostet das was?" Als wir sie beruhigen, nein, alles sei umsonst, ist sie einverstanden.

Die Existenzgründung

Auf der Kante zwischen Kreuzberg und Mitte finde ich nach zweimal Vorbeilaufen das Schildchen des örtlichen Arbeitslosenverbands. Weil ich durch das Schaufenster nur nett drapierte Puppen und Plüschtiere auf Zwergenstühlen erkennen kann, bin ich noch skeptisch, als ich versuche, die Glastüre aufzudrücken. Sie reagiert nicht. Eine Klingel gibt es nicht. Aber durch die Tür sehe ich einige erwachsene Personen sich im hinteren Teil eines großen Raums unterhalten. Ich klopfe in Abständen gegen das Glas, erst vorsichtig, dann energisch.

Ein älterer Mann verlässt die Gruppe, kommt auf mich zu und setzt auf den letzten zwei Metern ein heftiges Lächeln auf. Schön, dass ich gekommen sei, dass ZET jemand schicke, er organisiere das Ganze, und schon ist er wieder weg.

Die nächsten zwei Tage verbringe ich mit den vier ABM-Angestellten des Arbeitslosenverbands, einer strahlenden Esoterikerin mit Gründungsabsichten, einer desillusionierten Ost-Architektin, einem Querulanten im Anzug und zwei absolut Unauffälligen. Ein Wirtschaftler, eine Buchhalterin, zwei Versicherungsvertreter und ein Bankmensch belehren uns in Sachen Existenzgründung: Wir brauchen eine Geschäftsidee, eine Finanzkalkulation und darunter den Stempel eines Steuerberaters. Die Dozenten kommen alle aus dem Osten und legen Wert darauf, das immer wieder zu erwähnen, auch die Belanglosigkeit dieser Tatsache. Sie machen keine Werbung in eigener Sache und reiten darauf so lange herum, bis wir endlich ihre Visitenkarten eingesteckt haben.

Nach zwei Tagen verabschiede ich mich fast überschwänglich von den ABMlern, die mir in den Pausen ihr Leid aneinander geklagt haben, und ihrem Chef, dem Türöffner und Verantwortlichen für die Plastikblumen.

Die Entscheidung

Beim Frühstück berichte ich meinem Mann. Während ich mich erzählen höre von den Risiken und Vorzügen des freiberuflichen Lebens, weiß ich, dass es entschieden ist. Nach zwölf Stunden "im Amt" entscheide ich mich gegen eine Fortsetzung der Farce, der verlorenen Zeit.

Ich gründe eine Existenz. Mit vierundvierzig Jahren beginne ich zu existieren, herauszustehen aus den planen Vorgaben des Arbeitsamts und der Sozialversicherungen. Ich plane selber. Meine lange Geschichte mit dem Arbeitsamt findet ihren Abschluss in einer sechsmonatigen Abfindung, Auszahlung, Wiedergutmachung. Mit zehntausend Euro entlässt mich das Arbeitsamt in die Selbstständigkeit.

Angepflockt an seine Bedingungen und die Launen seiner Bediensteten umkreiste ich all die Jahre mit einem Ziegenmeckern meinen Pflock. Er bewilligte, änderte, hob auf, zitierte mich zu sich und freute sich besonders, mir mitteilen zu können dass. Wir, der Pflock und die Ziege, wir kannten beide die Welt nicht mehr. Unsere Aufgabe war es, uns gegenseitig im Auge zu behalten, immerzu.

"Das ist schön", sagt die Vermittlerin im Arbeitsamt, als ich ihr meine Pläne mitteile, und dann: "Das ist ja blöd."

Ich stelle einen Antrag auf Arbeitslosengeld, damit dieser abgelehnt wird und ich Überbrückungsgeld beantragen kann. In die Erfolgsgeschichte von ZET gehe ich ein als die schnellste Vermittlung.

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