Produktive Störung

Trauma Im Film „Germans & Jews“ sprechen die Nachkommen von Opfern und Tätern. Einfache Antworten gibt es nicht
Ausgabe 26/2020

Zu Beginn von Germans & Jews erzählt eine jüdische Frau, dass sie nach wie vor eine instinktive Angst verspüre, wenn sie jemanden Deutsch sprechen höre. Ein jüdischer Mann berichtet, dass sein Vater früher gesagt habe, dass es zwei Sorten Menschen gebe: „Juden und Nazis“. Zwischen diese Berichte sind Bilder montiert von Menschenmassen, darin Soldaten, Frauen und Kinder, die begeistert den Hitlergruß zeigen. Es sind einschneidende Eindrücke eines historisch belasteten Verhältnisses. Das Anliegen dieses Dokumentarfilms ist der Austausch über Traumata und Verantwortung, über Hoffnungen und Ängste, Verbindendes und Trennendes.

Germans & Jews ist eine Zusammenarbeit der Regisseurin Janina Quint, einer nicht jüdischen Deutschen, und der Produzentin Tal Recanati, einer jüdischen US-Amerikanerin und Israelin. Die beiden haben sich in New York kennengelernt und aus ihren unterschiedlichen Perspektiven auf die deutsch-jüdische Geschichte die Idee zu einem Dokumentarfilm entwickelt.

Im Mittelpunkt ihres Film steht ein Abendessen in Berlin, zu dem neun Menschen eingeladen wurden, Juden und nicht jüdische Deutsche. Die Atmosphäre ist gelockert, die Fragen, um die es geht, könnten jedoch kaum gewichtiger sein, etwa ob man sich heute als Jude in Deutschland wohlfühlen kann oder wie man als Nachkomme der Täter mit dem Erbe des Holocaust umgeht. Zu Wort kommt auch eine Vielzahl weiterer Personen, die Quint und Recanati interviewt haben, darunter der Soziologe Harald Welzer und die Journalistin Deidre Berger.

Bereits 2016 feierte Germans & Jews in New York Premiere, danach lief der Film auf zahlreichen internationalen Festivals. Im Mai hätte der Film in die deutschen Kinos kommen sollen, jetzt ist er coronabedingt als Video-on-Demand zu sehen.

Nachgezeichnet wird die Zeit vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis in die Gegenwart. So berichtet der Historiker Fritz Stern, dessen Familie 1938 vor den Nazis in die USA geflohen ist, wie er 1950 zu Recherchearbeiten zurück nach Deutschland kam und feststellen musste, dass die Deutschen sich in erster Linie selbst bemitleideten und zu Opfern stilisierten. Die spätere Arbeit Deutschlands an der Aufarbeitung der NS-Verbrechen findet im Film vielfach Anerkennung. Zugleich wird vor falscher Selbstzufriedenheit gewarnt.

Vielzahl der Perspektiven

Die vergleichsweise kurze Laufzeit von 81 Minuten mag täuschen. Germans & Jews ist kein Film, der nach einfachen Antworten oder schnellen Schlussfolgerungen sucht. Vielmehr wird hier Raum gegeben für ambivalente Gefühle und komplexe Biografien. Gerade die Vielzahl an individuellen Perspektiven macht diesen Film sehenswert. Der 1947 in Tel Aviv geborene Publizist Rafael Seligmann etwa schildert, wie seine Eltern, die 1934 nach Palästina geflohen sind, Ende der 50er Jahre mit ihm zurück in die BRD kamen. Dass die Gesellschaft damals noch stark von der NS-Zeit geprägt war, habe man auch an den Rollenbildern gesehen, die Härte glorifiziert und Emotionen stigmatisiert hätten. Dass man heute auch Schwäche zeige, so Seligmann, sei kein Makel, sondern Anzeichen einer toleranteren und menschlicheren Gesellschaft.

Der junge Israeli Yuval Halpern wiederum erzählt, dass die Entscheidung, nach Deutschland zu kommen, für ihn eigentlich keine große Sache gewesen sei. Und doch sei der erste Gedanke, wenn er hier Leute kennenlerne: „Was haben deine Großeltern im Zweiten Weltkrieg getan?“ Mit seinem Entschluss, nach Deutschland zu ziehen, ist er nicht allein. Berlin hat heute die am schnellsten wachsende jüdische Bevölkerung in Europa. Der Musiker Arik Hayut merkt gar an, dass er sich in Deutschland sicherer fühle als in Israel.

Man fragt sich, ob solche Sätze heute, vier Jahre später, noch genauso gesagt würden. Schließlich hat sich die Lage in den letzten Jahren verschärft. Über 2.000 antisemitische Straftaten wurden 2019 in Deutschland registriert, darunter der Anschlag auf die Synagoge in Halle. Auch vom Einzug der AfD in den Bundestag 2017 weiß dieser Film noch nichts. Angesprochen auf diese Entwicklungen sagte Janina Quint unlängst in einem WDR-Interview, dass sie heute „einen anderen Film“ machen würde. Somit ist Germans & Jews nicht zuletzt auch ein Dokument einer zuversichtlicheren Zeit.

Gerade bei den Überlegungen zur Gegenwart hätte der Film noch stärker die multikulturelle Vielfalt der heutigen deutschen Gesellschaft abbilden können. Jede fünfte Person in Deutschland hat heute einen Migrationshintergrund. Inwiefern sich durch diese Diversität auch die Perspektiven auf die jüdische Geschichte und Gegenwart in Deutschland verändern, wird im Film leider nur angedeutet.

Schätzungsweise 200.000 Jüdinnen und Juden leben heute in Deutschland, und doch haben viele Deutsche noch nie eine jüdische Person getroffen. Um dem entgegenzuwirken, stellte das Jüdische Museum in Berlin 2013 als Teil der Ausstellung Die ganze Wahrheit eine offene Vitrine auf, in der wechselnde jüdische Personen saßen und Besucherfragen beantworteten. Einer dieser Menschen berichtet im Film etwas irritiert, dass die Leute ihn weniger etwas fragen als vielmehr nur eine Bestätigung haben wollten, dass heute zwischen Juden und Deutschen alles in Ordnung sei.

In seinem Buch Desintegriert euch! kritisiert der Autor Max Czollek solche Versuche von Deutschen, jüdische Menschen zu instrumentalisieren, um „das Bild von den guten, geläuterten, normalen Deutschen zu stabilisieren“. Daher sind es gerade auch solche Stimmen, die dieses allzu bequeme deutsche Selbstbild produktiv stören, die Germans & Jews zu einem wichtigen Film machen.

Info

Germans & Jews Janina Quint USA 2016, 81 Minuten

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