Zwei Mädchen im Bus

Abtreibungsrecht In „Niemals Selten Manchmal Immer“ bleibt vieles unausgesprochen und ist doch glasklar
Ausgabe 40/2020

Immer wieder ist es dieses verschlossene Gesicht, auf das die Kamera sich fokussiert. Die 17-jährige Autumn (Sidney Flanigan) ist ungewollt schwanger geworden und muss für eine Abtreibung nach New York fahren. Wir sehen sie auf den winterlichen Straßen einer Kleinstadt in Pennsylvania, im Greyhound-Bus, in der New Yorker U-Bahn. Die graue, unwirtliche Umwelt, durch die die stille Autumn sich bewegt, verschwimmt dabei oft im Hintergrund. Es geht eine dezente Intimität aus von diesen grobkörnigen Bildern, in denen immerzu die Nähe zu Autumn gesucht wird.

Am Beginn von Niemals Selten Manchmal Immer steht ein Song-Wettbewerb in einer High School. Auf der Bühne werden Coverversionen aufgeführt, drei Jungs mit Beach-Boys-Outfits sind dabei, einer im Elvis-Kostüm. Die kitschige Atmosphäre wird abrupt gebrochen, als Autumn mit pinker Bomberjacke und Akustikgitarre die Bühne betritt. „He made me do things I don’t wanna do“, singt sie in ihrer Version von He’s Got the Power. Ein Mitschüler im Publikum ruft „Schlampe“. Autumn ist irritiert, spielt aber weiter. Später am Abend kippt sie ihm im Diner seinen Drink über den Kopf.

Die Filmemacherin Eliza Hittman ist eine der interessantesten Stimmen im gegenwärtigen US-Independentkino. Wie schon in ihrem letzten Film Beach Rats folgt sie in Niemals Selten Manchmal Immer einer Teenager-Figur, deren Bedürfnisse an gesellschaftspolitischen Umständen und konservativen Rollenbildern abprallen. Es ist eine prekäre Situation, in der Autumn sich befindet. Über ihre Lebensumstände erfahren wir kaum etwas. Überhaupt bleibt vieles in diesem Film unausgesprochen und angedeutet, stehen oft nur subtile Gesten und Blicke an jenen Stellen, wo man üblicherweise Dialoge findet. Autumns Krise wird sowohl durch das Fehlen von Handlungsoptionen wie auch von Vertrauenspersonen verstärkt. Hittman erzählt die Geschichte dabei nicht als Melodrama, sondern zeichnet mit fast dokumentarischer Genauigkeit den Prozess der Abtreibungssuche mit allen Details und Widrigkeiten auf.

Die Familie darf nichts wissen

Die Betreiberin der Pro-Life-Klinik, in der Autumn in ihrer Heimatstadt einen Schwangerschaftstest macht, zeigt ihr einen „Informationsfilm“, in dem Abtreibung als Mord verteufelt wird. Für Minderjährige sind Abtreibungen in Pennsylvania nur mit Zustimmung der Eltern erlaubt, aber ihrer dysfunktionalen Familie von ihrer Schwangerschaft zu erzählen, kommt für Autumn nicht infrage. Einzig ihrer gleichaltrigen Cousine Skylar (Talia Ryder) vertraut sie sich schließlich an, und Niemals Selten Manchmal Immer ist nicht zuletzt auch ein Film über die Freundschaft zweier junger Frauen.

Die gemeinsame Busreise zu einer Abtreibungsklinik in New York, die ein von den Eltern unbemerkter Tagestrip sein soll, zieht sich wegen medizinischer Komplikationen über drei Tage. In langen, entdramatisierten Sequenzen schlagen die beiden in den Wartebereichen von Bahnhöfen die Zeit tot oder driften nachts mit ihrem Koffer ziellos durch die Straßen, da sie kein Geld für ein Hotel haben. Dazwischen gibt es kleine Momente des Eskapismus, etwa wenn die beiden mit einer Zufallsbekanntschaft in einer Karaokebar singen.

Dieses raue, ganz und gar umglamouröse New York fängt die Kamerafrau Hélène Louvart in minimalistischen Bildern ein. Dass dem Film zugleich eine eigentümliche Poesie innewohnt, liegt auch an der Musik der experimentellen Popkünstlerin Julia Holter.

Es sind oft beiläufige Szenen, in denen Niemals Selten Manchmal Immer die alltäglichen Zumutungen und Übergriffe zeigt, denen Frauen ausgesetzt sind. Der Chef des Supermarkts, in dem Autumn und Tyler arbeiten, küsst den beiden nach der Schicht durch einen Fensterschlitz die Hände ab. In der nächtlichen New Yorker U-Bahn werden sie von einem Mann angestarrt, der zu masturbieren beginnt. All dem stellt Hittman immer wieder Momente weiblicher Solidarität gegenüber, etwa wenn Skylar auf der Arbeit beim Kassensturz das Geld für die Busfahrt abzweigt oder als die Ratgeberin (Kelly Chapman) der New Yorker Klinik Autumn in den OP begleitet und dort ihre Hand hält.

Die einschneidendste Szene des Films spielt zuvor im Büro jener Ratgeberin. Vor der Operation befragt sie Autumn zu Vorerkrankungen und Allergien. Dann geht sie mit ihr einen Fragebogen durch, aus dessen Antwortmöglichkeiten sich der Titel des Films zusammensetzt. Die Kamera, welche zuvor zwischen beiden hin und her gesprungen ist, verharrt jetzt auf Autumn. Wie in Zeitlupe sieht man über mehrere Minuten ihr zunehmendes Unwohlsein. Als sie gefragt wird, ob sie schon einmal Opfer von sexueller Gewalt geworden sei, kommen ihr Tränen. Was genau Autumn zugestoßen ist, lässt der Film offen.

Das Feingefühl, mit dem Eliza Hittman diese Szene von ungemeiner Intensität inszeniert, ist ebenso unvergleichlich wie die Darstellung von Sidney Flanigan, einer Sängerin, die hier zum ersten Mal als Schauspielerin auftritt. Ganz am Ende des Films blickt die Kamera wieder auf Autumns Gesicht. Die gesellschaftlichen Probleme sind noch immer die gleichen wie zu Beginn. Und doch liegt eine vorläufige Erleichterung in der letzten Szene dieses ebenso wichtigen wie herausragenden Films, in dem eine junge Frau ihr Recht auf Selbstbestimmung reklamiert.

Info

Niemals Selten Manchmal Immer Eliza Hittman USA 2020; 101 Minuten

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