Millionenmarsch gegen Gewalt

Tunesien Trauert 1,4 Millionen Tunesier erwiesen dem tunesischen Oppositionellen die letzte Ehre. Sie alle unterstrichen ihre Ablehnung der Gewalt und ihr Verlangen nach Demokratie.

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Sechs Schüsse sollen es gewesen sein, mit denen der linke tunesische Opposizionelle Choukri Belaid um 8:15 morgens am 6. Februar 2013 auf offener Straße vor seinem Haus buchstäblich hingerichtet wurde. Mindestens zwei Kopfschüsse, einen Schuss in den Hals, einen weiteren ins Herz sowie zwei weitere in Bauch und Schulter unterstreichen die Beharrlichkeit, mit der sein Tod unwiderbringlich sichergestellt werden sollte. Auch wenn die beiden Täter noch immer flüchtig sind, der Verantwortliche ist längst ausgemacht. Ob direkt oder indirekt, es soll die regierende ENNAHDA-Partei gewesen sein, die diese kaltblütige Liquidierung verschuldet hat. Wenn nicht selbst angeordnet, dann zumindest dadurch begünstigt, dass sie tatenlos zugesehen hat, wie seit einigen Monaten in den Moscheen Zwietracht zwischen den Tunesiern gesät wird. Auch sein Name sei dezidiert gefallen. Der Generalsekretär der marxistischen „Bewegung der demokratischen Patrioten“ und überzeugte Laizist, der vehement für einen zivilen Staat eintrat und kein Blatt vor den Mund nahm, um die geheimen Absichten der fundamentalistischen Regierungspartei, die dem Kreis der Muslimbruderschaft zuzurechnen ist, bloßzustellen, wurde als Ungläubiger verunglimpft, den es unbedingt zu töten galt.

Tatsächlich bestätigt Basma Khalfaoui, seine Frau, in einem von RTL Frankreich geführten Interview, dass bereits seit vier Monaten auf Facebook entsprechende Aufrufe kursierten und er zuhause telephonische Morddrohungen erhielt. Freunde in Regierungskreisen hatten ihn wissen lassen, dass er die Drohung ernst nehmen solle, denn sie seien nicht aus der Luft gegriffen. Dennoch wurde weder gegen die Stimmungsmacher im Land etwas unternommen, noch wurde ihm Personenschutz bereit gestellt. Aber Tunesien wäre nicht Tunesien, wenn die Schlussfolgerung aus dieser Erkenntnis einen Aufruf zur Gegengewalt zur Folge gehabt hätte, ganz im Gegenteil rief Mme. Basma noch mit einer von Schmerz verzerrten Stimme dazu auf, der Gewalt keine Gewalt, sondern allein die Kraft einer Idee entgegen zu setzen. Sie selbst nahm noch am selben Tag an einer friedlichen Kundgebung teil und verkörperte so eine beeindruckende Haltung und Würde, vor der sich ganz Tunesien verneigte.

Zwei Tage darauf, am Tag seiner Beerdigung, sollen gemäß dem tunesischen Innenministerium, France 24 und al-Arabia mehr als 1,4 Millionen Tunesier dem Politiker die letzte Ehre erwiesen haben. Eine beachtliche Zahl für ein Land, das in seiner Gänze gerade einmal 11 Millionen Staatsbürger zählt. Die meisten von ihnen waren sicherlich keine Anhänger von Choukri Belaid und seiner Partei, aber sie sind gekommen, um mit ihrer Anwesenheit dafür zu stehen, dass Tunesien keine Eskalation der Gewalt duldet, dass die Tunesier sich nicht spalten lassen werden, und dass sie der Fehlentwicklung entgegen treten wollen. Immerzu wurden auf Facebook Aufrufe lanciert, zwar zu protestieren, aber keine Ausschreitungen zu begehen, auch wenn dies viele am liebsten tun würden, keine Polizeistationen anzuzünden, denn jene, die den Mord in Auftrag gegeben hätten, wollten, dass das Land in die Anarchie abdriftet.

Von der Regierung hatte die Witwe verlangt, dass sie fern bleibe, die meisten Stimmen, die sich erhoben, verlangten einen Rücktritt derselben. Der Premierminister Muhammad Jebali zeigte zum ersten Mal Größe und Eigenständigkeit, als er unmittelbar anbot, einer Regierung von Technokraten zu weichen, was ihm die ENNAHDA-Führung nach Rücksprache zu untersagen versuchte. Ob eine Regierung von Technokraten oder eine Regierung der nationalen Einheit, wichtig ist jetzt nur, dass die Spaltung im Land ein Ende nimmt und jenseitz von Pöstchenschacherei und Wettbewerb um Bedeutsamkeit die historische Bedeutung des Übergangs die Oberhand gewinnt. Das in Demokratie ungeübte Volk, das vor drängenden sozialen und wirtschaftlichen Problemen steht, könnte angesichts der sich vertiefenden ideologischen Gräben im Land von Demokratie abgeschreckt werden, noch bevor es in den Genuss ihrer Segnungen gekommen ist. So sehr die fundamentalistische ENNAHDA-Partei nun verteufelt werden mag, wenn die säkulare Opposition jenseits von Schuldzuweisungen nicht bald Handlungsfähigkeit unter Beweis stellt, wird auch sie sich der Verantwortung nicht entziehen können, wenn so manch einer sich womöglich wieder eine Diktatur zurück wünscht.

Als Mme. Basma am Abend der Ermordung ihres Mannes von RTL Frankreich gefragt wurde, ob sie sich in diesen Tagen nach der Herrschaft Ben Alis zurücksehnen würde, antwortete sie bestimmt, dass sie dies niemals tun werde, schließlich sei es seine Schuld, dass sich das Land heute in diesem Zustand befinde. Nein, ihr ganzes Drängen richte sich darauf, eine echte Demokratie in Tunesien zu errichten. An die Opposition richtete sie den Appell, sich zu einen, um die Kräfte, die die Gewalt säen, nicht gewinnen zu lassen. Dies sei ihre einzige Botschaft, dass sich alle Oppositionellen, die aufrichtig an die Demokratie glauben, zusammen tun.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Khadija Katja Wöhler-Khalfallah

Deutsche und Tunesierin, Politik- und Islamwissenschaftlerin

Khadija Katja Wöhler-Khalfallah

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