Salafismus: die Konfession die Despoten in die Hände spielt

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Was verbirgt sich hinter diesen so genannten Salafisten, die nicht nur in deutschen Fußgängerzonen, sondern mindestens genauso unter den aufgeklärten Bürgern der gerade zart aufkeimenden Demokratien Tunesiens und Ägyptens für Befremden sorgen?

Die Bezeichnung „Salafisten“ leitet sich von den Salaf Assalih, den „ehrwürdigen Altvorderen“, her, denen es allein nachzueifern gelte. Nicht zu übersehen sind die Salafisten durch ihre urtümliche Kleidung, die bereits erahnen lässt, dass sie in erster Linie die Muslime und dann den Rest der Welt in eine heillos überidealisierte 1400 Jahre alte islamische Frühzeit zurückversetzen wollen. Die Salafisten boten das Urmodell für die neosalafistische Muslimbruderschaft, die 1928 in Ägypten ihre Geburtsstunde hatte. In Deutschland hat sie speziell in den hervorstechendsten islamischen Verbänden ihr Betätigungsfeld gefunden. Sie ist in erheblichem Maße verantwortlich für die Verbreitung eines reaktionären Islams in Europa und in der islamischen Welt und dient dem internationalen Terrorismus als ideologische Grundlage.

Kinder einer verklärten und unkritischen Geschichtsperzeption sowie fehlender politischer Aufklärung, erhoffen sich ihre Adepten, die selten in den Genuss der konstruktiven Aspekte der Moderne gelangt sind, die Überwindung all der als Nachteil empfundenen Übel: Vereinsamung des Einzelnen, Leistungsdruck und Konkurrenzkampf bereits in der Schule, Mobbing, Konsumterror, durch Alkoholmissbrauch, Gewalt zerrüttete Familienverhältnisse und Abgleiten in das Gesetz der Straße. Mit Blick auf ihre Heimatländer wünschen sie sich eine gerechte Herrschaftsform, in der Korruption, Vetternwirtschaft und Willkür überwunden werden, besonders aber auch ein Staatsoberhaupt, das imstande ist, die verletzte Ehre der Muslime wiederherzustellen, indem den externen Interventionen in die inneren Angelegenheiten Einhalt geboten wird. Politisch ungebildet, trauen sie nur einer Gottesherrschaft zu, all diese Sehnsüchte zu realisieren, da allein Gott, so ihre Argumentation, erhaben über jene menschlichen Schwächen sei, die so viel Verderben über die Menschheit gebracht hätten. Um dies zu erzielen, so ihre Logik, reiche es aus, die Scharia wieder als zentrale Quelle der Legislation einzuführen. Was sie dabei übersehen, ist, dass jene Scharia der menschlichen Interpretation bedarf, was diese im besten Fall reformierbar (für Salafisten unzulässig), im schlimmsten Fall jedoch manipulierbar macht. Ihre Anführer gehören in der Regel der bis vor kurzem marginalisiserten traditionellen Gesellschaftsschicht an, die jetzt ebenfalls an die Schaltstellen der Macht gelangen will.

Die zynische Pointe offenbart sich allerdings erst, wenn sich vor Augen geführt wird, dass dieser Salafismus nichts anderes ist als jene islamische Konfession, die in Saudi-Arabien beheimatet ist und im Rest der Welt, nicht minder in der islamischen, in der Regel abschätzig als „Wahhabismus“ abgetan wird. Noch lange galt diese Lehre auch unter Sunniten als Häresie, bis sich Saudi-Arabien durch großzügige Geldspenden Wohlwollen zu erkaufen verstand, denn ihre Besonderheit liegt darin, nicht-wahhabitischen Muslimen den Glauben abzusprechen (Takfir) und sie dafür für vogelfrei zu erklären. Die Notwendigkeit, die Scharia stets an Ort und Zeit anpassen zu müssen, wird als nicht wünschenswerte Neuerung (Bid`a) abgetan, die archaischen Strafen wie das Abhacken der Hand des Diebes, das Steinigen des Ehebrechers und das Töten des Apostaten werden als Allheilmittel gegen gesellschaftliche Exzesse wieder eingeführt, eine reformierte Staatsform wird abgelehnt und auf einem absoluten Kalifat beharrt, der Eroberungs-Dschihad, der längst überwunden war, wird reaktiviert und die Frau dem Mann zu Diensten gemacht.

Der Begründer dieses Salafismus war Muhammad bin Abd al-Wahhab (1703/04-1791/92). Er wurde in seiner Jugend Zeuge, wie sich die Stämme auf der arabischen Halbinsel zerfleischten, wie kleine selbsternannte Despoten die Menschen schikanierten und sie ihrer Habe und Würde beraubten. Dies zu ändern, bedurfte es seiner Meinung nach eines starken Herrschers, der Ordnung und „Gerechtigkeit“ wiederherzustellen vermochte. Um dem Machtmissbrauch nicht zu verfallen, sollte er sich durch die göttlichen Gesetze gebunden sehen. Um die vielen unterschiedlichen Ausprägungen des Islam zu überwinden, die die Spaltung seiner Meinung nach erst zementierten, propagierte er eine aggressive Vereinheitlichung der Glaubenslehre, was der islamischen Tradition eigentlich zutiefst zuwider läuft. Tatsächlich konnte er seine Missionierungsarbeit erst nach dem Tod seines Vaters, der Richter an einem Schariagericht war, vorantreiben, und bereits sein Bruder schrieb zu seinen Lebzeiten ein Buch, in dem er seine radikale Glaubensauslegung als unislamisch widerlegte. Eine Haltung, der sich die Mehrheit der damaligen sunnitischen Religionsgelehrten anschloss. Dem Stamm Saud kam die rigorose Konfession allerdings sehr gelegen, denn sie bot ihm die Legitimation, Krieg gegen Muslime zu führen und Macht über einen Großteil der arabischen Halbinsel zu erlangen.

Welch Missbrauch die Anwendung einer archaischen Gesetzgebung in einem Raum entfalten kann, der über keinerlei Mechanismen zur Kontrolle des Kontrolleurs verfügt, zeigt auf geradezu exemplarische Weise das heutige Saudi-Arabien. Hier hilft es auch wenig, wenn sich die Salafisten nach der islamischen Frühzeit zurücksehnen, denn der Keim zum Missbrauch haftet ihrem Gedankenkomplex selbst an. So wie bereits der dritte Kalif Uthman der Macht verfallen war, so handelt auch das Haus Saud heute nach eigenem Gutdünken, denn solange dem Volk keine Mechanismen in die Hand gelegt werden, um die Machtfülle des Herrschers real einzuschränken, so lange wird er seine ihm theoretisch zugedachten Kompetenzen stets zu überschreiten versuchen.

In Saudi-Arabien ist bereits eine Reformbewegung im Entstehen begriffen, die beginnt, die Schwächen des Wahhabismus zu thematisieren und die Vorzüge der demokratischen Institutionen zu erkennen. Der wohl nachhaltigste Schlag, der dem Salafismus und Neosalafismus versetzt werden kann, wäre allerdings eine massive Entmystifizierungs- und Aufklärungskampagne bar jeglicher Überheblichkeit und frei von Kulturrelativismus. Hier sehnen sich Menschen schlicht und ergreifend nach Gerechtigkeit und nach Lebensanleitung, und es wäre unsere Zivilgesellschaft gefragt, jenseits von hysterischer Rundumschlags-Islamophobie eine Diskussion über die Natur von Machtmissbrauch und was zu dessen Eindämmung unternommen werden kann zu entfachen, sowie den Stellenwert des Menschen in der heutigen Gesellschaft neu zu ergründen. Es ist kaum hoch genug einzuschätzen, was eine derartige Diskussion für den Gesellschaftsfrieden zwischen den Religionsgemeinschaften in Deutschland bedeuten würde und welche Ausstrahlung sie auf die gerade in Tunesien und Ägypten geführten hitzigen Debatten über die Natur der anzunehmenden Verfassung haben könnte.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Khadija Katja Wöhler-Khalfallah

Deutsche und Tunesierin, Politik- und Islamwissenschaftlerin

Khadija Katja Wöhler-Khalfallah

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