Überwindet Ohnmacht und Fremdsteuerung!

Appell an Muslime: Zu den Attentaten gegen die Karikaturisten von Charlie Hebdo

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Nein, dieses Mal darf es einfach nicht erneut geschehen, dass bestimmte Muslime nach der Überwindung ihres Schocks die Schuld für das Massaker an die Karikaturisten der französischen Satirezeitschrift Charlie Hebdo der Weltverschwörung, dem Imperialismus oder dem Zionismus zuschreiben und reflexartig den Islam, in dessen Namen die Täter nun einmal zu handeln beteuern, von jeder Schuld reinzuwaschen beginnen, weil nicht sein kann, was nicht sein darf.

Zumindest im ersten Jahr des nordafrikanischen und arabischen Frühlings von 2011 wurde für einige Monate sichtbar, dass auch die muslimische Welt reichlich Söhne und Töchter hervorgebracht hatte, die die Ketten einer erdrückenden Tradition und den Maulkorb zu lange ertragener Diktaturen aufzubrechen bereit waren, auch wenn die darauffolgenden ersten freien demokratischen Wahlen gleichermaßen offenbarten, wie schwer im Gegenzug noch das Erbe der Unterdrückung und geistigen Verstümmelung auf weiten Teilen der Gesellschaft lasteten. Allein in Ägypten, das sich als die Mutter der Welt wähnt und über 80 Millionen Einwohner zählt, sind die Hälfte davon Analphabeten, die ärmsten von ihnen besuchen, wenn sie denn in den Genuss einer Schulbildung kommen, die Einrichtungen der einst ehrwürdigen Al-Azhar-Moschee, von der Kritiker aus den eigenen Reihen bemängeln, dass ihre religiösen Lehrbücher seit einem halben Jahrtausend keine nennenswerten Reformen erfahren hätten. Die Mittelschicht ist einem mehr oder minder säkularen, immer noch unkritischen und heillos überfüllten Bildungssystem ausgeliefert. Allein die Bessergestellten, die Kinder der Wirtschafts- und Machtelite, haben Zugang zu einer gehobenen Bildung, die allerdings, wen sollte es überraschen, mit hohen Gebühren belegt ist. In Tunesien, das sich lange rühmen konnte, ein anspruchsvolles Bildungssystem aufgebaut zu haben, wobei mehr in den Naturwissenschaften als in den Geisteswissenschaften, blieb lange unbemerkt, dass viel zu viele Schüler vom Bildungsprozess ausgeschlossen blieben. Zwei Millionen Analphabeten zählte das kleine Land 2011 voller Entsetzen, immerhin ein Fünftel der Bevölkerung. Und so lohnt durchaus ein weiterer Blick auf die Bildungssituation in weiteren muslimischen Ländern wie Algerien, Pakistan, etc., von Saudi-Arabien gar nicht zu reden. Plötzlich bekommt das ganze Ausmaß der Fehlentwicklung Konturen.

Doch als wäre dies nicht tragisch genug und für sich allein in der Lage, eine ganze Zivilisation in den Abgrund zu stürzen, so offenbart der Blick auf den Zustand religiöser Institutionen ein weiteres verheerendes Versäumnis: eine scheinbar unüberwindbare Reformresistenz, die bis auf Ausnahmen die Regel geworden ist und nicht selten in Teilen einer Wahhabisierung nach massiver saudischer Einflussnahme ausgesetzt war, wie im Falle der Al-Azhar in Ägypten oder der Zaituna in Tunesien. Nun, Geld regiert auch im Orient nicht minder die Welt, und der Wahhabismus, der dem heutigen Salafismus zugrunde liegt, wird von Petrodollars bereits seit den 1960er Jahren massiv gefördert, schon weil eine ziemlich retrograde Islamauslegung nötig ist, um eine despotische Herrschaft wie jene des Hauses Saud zu rechtfertigen, und weil Massenverdummung imstande ist, ein Heer von Bauernopfern für saudische geostrategische Interessen heranzuzüchten.

Übrigens, auch wenn dies im Westen immer noch nicht durchgedrungen zu sein scheint, baut auch der Neosalafismus der Muslimbruderschaft, dem sich einige prominente Islamverbände in Deutschland verschrieben haben, auf dem wahhabisierten Salafismus auf. Entgegen der gebetsmühlenartig wiederholten Beteuerungen gegenüber der Politik hängen sie der Ideologie des islamischen Fundamentalismus an. Sie befinden sich bereits auf dem besten Wege, als Körperschaften des öffentlichen Rechts anerkannt zu werden, und es ist ihnen gelungen, sich als unverzichtbare Partner in Fragen der Erörterung der Inhalte des Islamunterrichts, der Imam-Ausbildung und der Salafismus-Prävention anzubiedern. Ob sich die in Deutschland lebenden Muslime von diesen Organisationen, wenn sie sie denn überhaupt kennen, tatsächlich vertreten fühlen, hat noch niemand jenseits zweifelhafter Statistiken zu ermitteln versucht.

Erwähnt sei hier neben der besser bekannten und als fragwürdig wahrgenommenen türkischen Milli Görüsch der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD), dessen Vorsitzender Aiman Mazyek stets das Wort an sich reißt oder erteilt bekommt, wenn eine offizielle Stimme der Muslime gehört werden will oder soll. Dabei ist der ZMD nichts weiter als ein ideologischer Vertreter eben jener neosalafistischen Muslimbruderschaft in Deutschland, die sich in ihrem Gedankengut von den radikalen Salafisten lediglich darin unterscheidet, einer strategisch durchdachteren Vorgehensweise zu folgen, die pluralistische Demokratie zu unterminieren und die Muslime zurück in Bevormundung und Sklaverei katapultieren zu wollen. Zu bedenken sei hier gegeben, dass selbst gemäß einer von der Deutschen Islamkonferenz (DIK) in Auftrag gegebenen Studie nur 11 Prozent der Muslime, die den ZMD kennen, sich von diesem vertreten fühlen, vom Koordinationsrat der Muslime (KRM), in dem sich der ZMD, Milli Görüsch, DITIB (die aus Ankara gesteuerte türkische Religionsbehörde) und die dubiose Sekte VIKZ befinden, auch nur 25%. (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2009) Zu den Prozentsätzen sei dennoch angemerkt, dass sie aus welchem Grund auch immer Verwirrung stiften, da sie sich auf eine an dieser Stelle nicht quantifizierbare Grundgesamtheit beziehen, denn es bleibt die Frage offen, wie viele Prozent der in Deutschland lebenden Muslime denn den jeweiligen Verein kennen. Denn erst entsprechend dieser Zahl ließe sich absolut ermitteln, wie viele der in Deutschland lebenden Muslime sich tatsächlich von welchem Verband vertreten fühlen. In jedem Fall ist der Anteil aller Muslime in Deutschland, die sich von diesen Verbänden vertreten fühlen, nochmals geringer als die oben genannten Prozentsätze.

Mich persönlich wundert es nicht, dass viele Deutsche, nach meinem subjektiven Eindruck weit mehr als jene, die mit PEGIDA marschieren, ernsthaft besorgt sind über die Gesinnung der hier lebenden Muslime, gehen Presse und Politik den Verbänden doch immer wieder auf den Leim, indem sie sie als Vertreter der hier lebenden Muslime annehmen, darstellen und präsentieren. Menschen haben oft einen gesunden Instinkt dafür, wenn Ihnen mit Doppelzüngigkeit begegnet wird, und diese Verbände tun dies eindeutig, dafür reicht ein Blick in die von ihnen verbreitete Literatur. Wenn der deutsche Staat oder europäische Regierungen also wirklich etwas Gutes für den Teil der muslimischen Bürger unternehmen wollen, die aufgrund von Altlasten alter Diktaturen bildungsfern sind, und sei es nur, dass sie der Radikalisierung begegnen wollen, dann gibt es keinen anderen Weg als politische, philosophische und historische Aufklärung in den Schulen und in den Medien anzuregen, indem Beispiele aus der Lebensrealität der Muslime gewählt werden, die den Mythos der eigenen Unfehlbarkeit, ohne Arroganz und Überheblichkeit, zu durchbrechen helfen. Dort, wo Islamunterricht oder Imam-Ausbildung unerlässlich werden, sollten muslimische Aufklärer, von denen es gar nicht so wenige gibt, nicht ausgespart werden, kritische Geschichtsperzeption sowie Staatstheorie der Aufklärung zum festen Bestandteil des Curriculums aufgenommen und die Bestimmung der Inhalte nicht ausgerechnet den Fundamentalisten überantwortet werden.

An die hier lebenden Muslime richte ich den von Herzen kommenden Appell, sich von religiöser Bevormundung durch mindergebildete und nicht selten selbsternannte Religionsvertreter zu emanzipieren, sich aufzurichten, eigene Ansprüche zu entwickeln und Stolz, Würde und Ehrgefühl zu entfalten. Wie lange wollen sie denn noch zusehen, wie ihre Kultur mit Füßen getreten wird, wie ihre Jugend an künstlich geschaffenen Widersprüchen zerbrechen soll, wie Bigotterie ihren Alltag bestimmt und ihr Leben in eine Hölle verwandelt. Ich bitte sie eindringlich, sich von zweifelhaften Verbänden zu distanzieren, nach einer guten Bildung ihrer Kinder zu streben, eine grundlegende Reform der Ausbildung ihrer religiösen Vertreter einzufordern und sich über ihre Religion und Geschichte aus fundierten Quellen zu informieren und nicht mehr aus dem verdummenden Propagandamaterial, das von orientalischen Potentaten lanciert wird, die kein anderes Ziel verfolgen, als sie zu Instrumenten ihrer illegitimen Herrschaft zu degradieren.

Leider lässt sich nicht kleinreden, dass auch in der postkolonialen Ära sicherlich vieles zwischen dem säkularen Westen und der mehrheitlich muslimischen Welt falsch gelaufen ist. Aus Sorge vor dem Kommunismus wurden nicht selten Diktatoren gestützt, aus wirtschaftlichen Erwägungen wurden Kriege im Namen der Demokratie angezettelt, für die nicht einmal davor zurückgeschreckt wurde, eigene Soldaten zu opfern und bei denen Millionen Muslime direkt oder indirekt den Tod fanden. Doch werden die Muslime diese Fehlentwicklungen nicht korrigieren können, indem sie sich der Bildung verweigern, archaischem Terrorismus hingeben und vormittelalterliche despotische Systeme errichten. Wer dies Muslimen einredet, ist nicht um ihr Wohl besorgt, sondern verfolgt lediglich eigene machtstrategische Interessen.

Doch zurück zu dem Massaker an den Karikaturisten von Charlie Hebdo. Auch wenn sich sicherlich nicht wenige durch ihre Zeichnungen in ihren religiösen Gefühlen verletzt gefühlt haben dürften, würde dies allenfalls intellektuelle Entgegnung auf Augenhöhe durch Wort oder Zeichnung rechtfertigen, aber kein Blutvergießen, nein, niemals Blutvergießen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Khadija Katja Wöhler-Khalfallah

Deutsche und Tunesierin, Politik- und Islamwissenschaftlerin

Khadija Katja Wöhler-Khalfallah

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