„Gebt den Impfstoff frei!“

Pandemiebewältigung Das „Peng“-Kollektiv fordert den Leak der Impfstoff-Formel. Ein Aussetzen des Patentrechts wird schon länger diskutiert

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Für weite Teile Afrikas sei mit einer ausreichenden Zahl an Geimpften erst ab 2023 zu rechnen, heißt es
Für weite Teile Afrikas sei mit einer ausreichenden Zahl an Geimpften erst ab 2023 zu rechnen, heißt es

Foto: Rodrigo Buendia/AFP/Getty Images

Mit optimistischen Worten hatte der Biontech-CEO Uğur Şahin am 2. Dezember die beginnende Auslieferung des Biontech/Pfizer-Impfstoffs in das Vereinigte Königreich kommentiert: Es sei der Anfang vom Ende der Pandemie. Großbritannien hatte am selben Tag eine Notfallzulassung erwirkt, drei Wochen später folgte die Marktzulassung auf der anderen Seite des Ärmelkanals durch die Europäische Kommission. Bald darauf waren die Medien voll von Bildern, die zeigten, wie sich Politiker/innen, Bewohner/innen von Alten- und Pflegeheimen und andere mit hochgekrempelten Ärmeln vor laufender Kamera impfen ließen.

„Möglicherweise können wir bis Ende des Sommers die nötige Menge an Impfdosen ausliefern, um die Abdeckung von 60 bis 70 Prozent zu erreichen, was die Erleichterung verschaffen würde, 2021 einen normalen Winter zu haben.“ (Uğur Şahin im CNN-Interview am 2. Dezember 2020. Übers. v. Verf.)

Das klang hoffnungsvoll – und dennoch bleibt die Frage: Für wen gilt das eigentlich? Wie eine aktuelle Prognose der Economist Intelligence Unit zeigt, besteht die Aussicht auf Eindämmung der Pandemie noch 2021 bislang nur für die USA und Europa. Der globale Süden muss sich weiter gedulden, für weite Teile Afrikas etwa sei mit einer ausreichenden Zahl an Geimpften erst ab 2023 zu rechnen.

Der Anfang vom Ende?

Nicht nur in Bezug auf die deutschlandweite Impfpolitik wird zunehmend Kritik laut. Schon letzten Herbst hatten sich über 100 Staaten einer von Südafrika und Indien ausgehenden Initiative angeschlossen, deren Forderung lautete: Die Patentrechte auf die Impfstoffe sollen zeitweilig ausgesetzt werden, um eine globalere Produktion zu ermöglichen. Dieser Antrag wurde im Oktober von der Weltgesundheitsorganisation abgelehnt. Nun soll Anfang März erneut über den Vorschlag beraten werden.

Wenige Wochen vor dieser Entscheidung hat das für brisante Aktionen bekannte „Peng“-Kollektiv zugeschlagen: Mit der seit gestern Vormittag laufenden Kampagne Leak Biontech ermutigt es die Angestellten des deutschen Unternehmens Biontech, die Formel des Corona-Impfstoffs anonymisiert zu veröffentlichen. Zugleich schließt sich das Kollektiv der Forderung nach einem zeitweiligen Aussetzen des Patentrechts auf Impfstoffherstellung an. Vor den Biontech-Standorten in Mainz und Marburg fanden sich gestern gut sichtbar angebrachte Plakate, auf denen zu lesen war: „Deine Arbeit kann Leben retten – oder Profite maximieren.“ Auf der Homepage der Kampagne, biontech-leaks.org, geht es im selben zugespitzten Tonfall weiter: „Der Patentschutz verhindert die weltweite Produktion. Du hast die Möglichkeit, das zu ändern. Du hast Zugriff auf die geheimen Rezepte. Du kannst das Wissen teilen.“

Die Kritik an der Aktion lässt nicht lange auf sich warten. So heißt es etwa in den Kommentaren auf Facebook und Youtube, dass die Zusammensetzung des von Biontech hergestellten Impfstoffes längst bekannt sei. Die Antwort des Kollektivs: Der Code sei bekannt, doch lasse sich aus diesem keine „Herstellungsanleitung“ ableiten. Andere stellen sich hinter die Arbeit von Biontech und betonen deren Bemühen, soviel Vakzin wie möglich zu produzieren. CEO Şahin habe mehrmals klargemacht, dass es ihm darum gehe, nicht nur die Industrienationen zu beliefern, sondern auch den Rest der Welt. Außerdem sei die notwendige Dauerkühlung des Impfstoffs auf -80 °C eine logistische Herausforderung, die nur unter besonderen Bedingungen gewährleistet bleiben könne.

Nun ist das Berliner Kollektiv für Aktionskunst bekannt für kontrovers diskutierte Kampagnen. Mit dem aktuellen Feldzug gelingt ihnen vor allem eines: Sie machen auf die ungleiche Auslieferung der produzierten Impfstoffe aufmerksam. Denn während Unternehmen wie Biontech/Pfizer und Moderna mit den westlichen Ländern Exklusivverträge geschlossen haben, bleiben die ärmeren Länder des globalen Südens von der Verteilung weitestgehend ausgeschlossen. Laut Peng wäre es möglich, die Impfstoffproduktion globaler zu gestalten, da „alleine in Indien mehr als tausend Unternehmen in der Lage wären, in die mRNA-Impfstoffproduktion einzusteigen.“

Internationale Solidarität

Eine globale Krise muss global bekämpft werden. Dafür setzt sich etwa auch – und schon seit längerem – die Politikwissenschaftlerin Anne Jung ein. Sie ist Referentin für globale Gesundheit bei der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation medico international. Auch sie fordert: „Die Zusammensetzung des Impfstoffs darf kein Geschäftsgeheimnis sein.“ Zudem macht auch sie sich für eine Anpassung des Patentrechts stark, da nur auf diese Weise eine legale Parallelproduktion ermöglicht werden kann.

Bislang sieht die von der WHO und der EU-Kommission gegründete Initiative COVAX vor, noch dieses Jahr 20 Prozent der Bevölkerung in den ärmsten Ländern mit Impfstoffen zu versorgen – sofern die Länder ein zufriedenstellendes logistisches Konzept der Verteilung anbieten können. Doch selbst ein Erreichen dieser 20 Prozent reicht bei weitem nicht aus, um die überlastete Situation in vielen Ländern zu entspannen. So beklagenswert es klingt, so wenig überrascht es: Die westliche Welt hat ihre Prioritäten gesetzt. Mal wieder.

„Die Menschen in den ärmsten Ländern stehen am Ende der Impfstoff-Warteschlange“, so Christine Jamet von Ärzte ohne Grenzen. „Doch in den Staaten Subsahara-Afrikas, die mit der aggressiven Ausbreitung der neuen Virusmutation zu kämpfen haben, besteht ein dringender Bedarf an Impfungen.“ Daher fordert die internationale Hilfsorganisation eine „solidarische und schnelle globale Verteilung der Covid-19-Impfstoffe“.

Auch wenn man kaum zu hoffen wagt, dass die WHO sich Anfang März zugunsten der Initiative von Südafrika und Indien entscheiden wird: Die Pandemie ist erst vorüber, wenn das Virus mit seinen Varianten überall auf der Welt eingedämmt wurde. Um das zu erreichen, braucht es auch eine global gerechte Strategie der Impfstoffverteilung. Der Westen muss mehr Solidarität mit dem globalen Süden zeigen. Und wenn das passieren soll, muss der öffentliche Appell nach einem internationalen Strategiewechsel lauter werden. Eine Kunstaktion wie die des „Peng“-Kollektivs kann helfen, die nötige Aufmerksamkeit dafür zu schaffen.

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