Salman Khan war früher Hedgefondsmanager. Er rechtfertigte das damit, dass er sein Vermögen später nutzen wollte, um eine kostenlose Schule zu eröffnen. In den USA kann die Ausbildung an einem College bis zu sechsstellige Dollarbeträge kosten und schon während der Schulzeit kassieren private Tutoren und Anbieter von Vorbereitungskursen für Prüfungen mächtig ab. Nicht bei Khan: Der Finanzprofi wollte seiner Cousine, damals Siebtklässlerin, Nachhilfe in Mathe geben und tat dies mit Hilfe eines Notepads und via Internet. Als immer mehr Cousins seine Hilfe verlangten, fing Khan an, die Videos auf Youtube zu posten. Heute ist die Khan Academy eine gemeinnützige Siftung mit 60 Mitarbeitern und Sitz in Mountain View im Herzen des Silicon Valley. Ihre mit Creative-Commons-Lizenz versehenen Videos sehen sich mehr als 15 Millionen angemeldete Nutzer in rund 190 Ländern an.
der Freitag: Herr Khan, wer sind diese Millionen von Menschen, die Ihre Videos anschauen?
Salman Khan: Unsere Zielgruppe ist überraschend umfassend. Die größte Gruppe ist die heutige Version meiner Cousins: Schüler, die die Khan Academy entweder im Klassenzimmer oder mit ihren Eltern zu Hause nutzen. Für die sogenannten „Math Missions“ loggen die Kinder sich ein, stellen Fragen; das System ermittelt, was sie wissen und was nicht, und führt sie dann darauf basierend in ihrem eigenen Tempo durch die Übungen. Die Schüler haben einen Coach, einen Elternteil oder einen Lehrer, der Informationen dazu bekommt, wie er weiterhelfen kann. Mathe ist auch ein wichtiges Thema für die College-Studenten, die zu uns kommen, um sich auf Prüfungen oder Kurse vorzubereiten – neben Physik, Chemie, Biologie, Wirtschaft, Finanzen. All diese naturwissenschaftlichen Fächer, die häufig Probleme machen.
Sie erreichen also vor allem junge Menschen.
Ja, aber zu uns kommen auch viele lebenslang Lernende: Menschen um die 30, 40 oder 50. Bei ihnen sind Finanzvideos sehr beliebt. Sie kaufen ein Haus und wollen wissen, wie eine Hypothek berechnet wird. Oder sie merken im Beruf plötzlich, dass sie Statistik hätten lernen sollen. Unser Ansatz ist es, ein bisschen tiefer zu gehen als herkömmliche Medien, auch bei makroökonomischen Fragen: wie das Bankensystem und wie Wirtschaftszyklen funktionieren. Es geht um vieles, was in den Nachrichten vorkommt, aber was die Menschen noch einmal genau erklärt haben wollen.
Welches Video sollte jeder einmal gesehen haben?
Die Videos über die Größe des Universums. Es ist eine nahezu metaphysische Erfahrung, sie anzusehen. Wann immer ich gestresst bin, reflektiere ich über Zeit und Ausmaß des Universums. Oder wenn ich ein bisschen zu narzisstisch werde. Das hilft, wenn das Ego ein bisschen zu groß wird. Dann sieht man schnell ein, dass man eigentlich nur eine Art Ameise ist oder noch nicht einmal das.
Innerhalb weniger Jahre ist die Khan Academy zum gemeinnützigen Nachhilfe-Riesen geworden. Warum versagt das traditionelle Bildungssystem?
Ich bin vorsichtig mit dem Wort „versagen“, schließlich sind wir alle Produkt des traditionellen Bildungssystems. Vor 300 Jahren war es nicht weit verbreitet, dass Menschen eine solide Ausbildung bekommen; die meisten wussten nicht einmal, wie man liest. Das war okay als Modell der industriellen Revolution, wo man Leute mit Grundkenntnissen brauchte, die eine Anleitung lesen und Anweisungen befolgen können. Auch für höhere Angestelltenjobs konnte man bestimmte Qualifikationen in der Schule oder dem College lernen und sie dann die nächsten 40 Jahre lang anwenden. Aber in der heutigen Welt reicht das einfach nicht mehr. Wir brauchen Menschen, die in der Lage sind, selbstständig zu lernen. Ich bin überzeugt davon, dass es eine Riesenchance ist, sich auf individuelle Kernqualifikationen zu konzentrieren. Indem wir uns an den Schülern ausrichten, können wir ein insgesamt höheres Kompetenzniveau erreichen. Das alte Modell mit demselben Lerntempo für alle ist überholt. Da haben Schüler, die etwas nicht verstehen, Pech gehabt, wenn die Klasse zum nächsten Thema übergeht. Mit dem technologischen Fortschritt können wir das besser machen.
Wirtschaftsthemen sucht man in Lehrplänen oft vergeblich.
Wenn ich könnte, würde ich das und dazu Statistik, Recht und Programmieren in die Lehrpläne aller Länder aufnehmen. Aber ich kann ja nicht zaubern. Zu verändern, was in der Schule gelehrt wird, ist keine triviale Angelegenheit, das gehört in die Politik. Die Khan Academy kann immerhin einfachen Zugang verschaffen, indem wir Material für interessierte Schüler und Eltern bereitstellen. Das ist nur einen Klick entfernt und braucht keinen Systemwandel.
Aber nehmen digitale Bildungsinnovationen nicht den Staat aus der Verantwortung?
Man kann nie genug in Bildung investieren. Der Staat muss immer eine große Rolle spielen. Sehen Sie sich die früh industrialisierten Länder an, die USA, Großbritannien, Deutschland und Japan: Es ist kein Zufall, dass sie zu den ersten gehörten, in denen die Regierung es als ihre Verantwortung sah, jedem Kind Zugang zu freier, hochwertiger Bildung zu verschaffen. An diesem Prinzip zu rütteln, das wäre sehr schädlich.
Was ist dann Ihre Rolle?
Wir treffen viele Politiker, und alle wissen, wie wichtig Ausbildung ist. Ihr Problem ist nur, dass sie Investitionen in Computer und neue Übungsformen mit messbaren Ergebnissen rechtfertigen müssen. Aber das darf nicht als Ausrede dafür genutzt werden, dass Regierungen Investitionen unterlassen. Wir können mittlerweile auswerten, was für unterschiedliche Schüler besser funktioniert. Das kann Türen für Regierungen öffnen, um Investitionen in After-School-Programme oder öffentliche Schulen zu rechtfertigen.
Die Khan Academy finanziert sich ausschließlich durch Spenden, etwa von Bill Gates und Googles Eric Schmidt. Welchen Einfluss haben Ihre Spender?
Viele unserer Spender sind kluge und bedachte Menschen, deren Rat ich immer gern höre, unabhängig davon, wie viel sie uns gespendet haben. Gleichwohl waren viele selbst Unternehmensgründer und verstehen: Um erfolgreich zu sein, brauchen wir Luft zum Atmen und Chancen, auszuprobieren. Wenn uns jemand eine Million Dollar gibt, wollen wir wissen, was er oder sie denkt. Aber wir haben schon Geld abgelehnt, wenn es unterschiedliche Auffassungen gab.
Zur Person
Salman Khan, 38, stellt sich selbst mit „Sal“ vor. Er wurde als Sohn eines bengalischen Vaters und einer indischen Mutter in New Orleans im US-Bundesstaat Louisiana geboren. 1998 absolvierte er das Massachusetts Institute of Technology (MIT) mit gleich drei Abschlüssen: je einem Bachelor in Mathe und Informatik und einem Master in Elektrotechnik. Es folgte ein MBA an der Harvard Business School. 2012 veröffentlichte er sein Buch The One World Schoolhouse: Education Reimagined
Wäre es nicht lukrativ, die Khan Academy in ein gewinnorientiertes Unternehmen umzuwandeln?
Das wird nie passieren. Nur über meine Leiche. Wäre die Khan Academy ein kommerzielles Unternehmen, könnte ich es mit einer Anteilsmehrheit so leiten, wie ich will, auch in einer sehr altruistischen Weise. Was aber würde passieren, wenn ich nicht mehr da wäre? Dann ginge mein Anteil an die anderen Aktionäre und an meine Erben. Wer weiß, was sie damit machen würden? Selbst wenn ich eines Morgens aufwache und es in ein gewinnbringende Organisation umwandeln möchte: Ich könnte es nicht. Unsere Mission lautet: Freie Bildung für jeden und überall. Darum geht es – egal, wer die Anteilseigner sind. Wir machen das alles, um zu helfen. Wir versuchen nicht, die Leute einzufangen und ihnen dann ein Premiumprodukt zu verkaufen. Und wir versuchen auch nicht, uns die Daten und Informationen der Menschen zunutze zu machen.
Es gab sogar eine Fallstudie der Harvard Business School dazu, ob die Khan Academy eine gewinnorientierte Organisation sein sollte.
Es ist viel darüber diskutiert worden, ja. Und klar, es ist ungewöhnlich, ein Projekt mit der Zugkraft und der Wachstumsrate einer Tech-Firma nicht zu einem von Wagniskapitalgebern gestützten Unternehmen zu machen. Sondern zu einer Stiftung. Aber auch sechs Jahre später bin ich sehr glücklich damit. Freiwillige sind aus dem Nichts aufgetaucht, und wir konnten weit mehr Talente für uns gewinnen, als das in Form eines kommerziellen Unternehmens möglich gewesen wäre.
Wie können Sie denn überhaupt als Arbeitgeber mit anderen großen, profitorientierten Firmen im Silicon Valley konkurrieren?
Das war meine größte Sorge bei der Entscheidung für die Gemeinnützigkeit. Mir selbst geht es nicht darum, dass ich der nächste Mark Zuckerberg werde. Aber wie kann ich Mitarbeiter von Kaliber anziehen, wie er es schafft? Wir zahlen mehr als die meisten anderen gemeinnützigen Organisationen und haben eine Richtlinie, die vorgibt, damit im obersten Viertel im Silicon Valley zu liegen. Hinsichtlich Grundgehalt und Boni wird unser Team also gut bezahlt.
Aber?
Wir können unseren Mitarbeitern eben keine Anteile am Unternehmen geben. Im Silicon Valley ist das aber häufig ein bedeutender Teil des Gehalts. Das kann in die Millionen gehen, da können wir nicht mithalten. Trotzdem haben wir Mitarbeiter, die weltweit die Besten in ihrem Fach sind. Diese Menschen sehen das, was sie machen, als Kunst, die sie nicht nur ausüben, um die Anzahl der Nullen auf ihrem Bankkonto zu vermehren. Sie wollen ihren Einfluss maximieren – und natürlich genug Geld haben, um ein angenehmes Leben zu führen, ihre Kinder auf das College zu schicken, ab und an in ein nettes Restaurant zu gehen und in den Urlaub zu fahren. Solange das gewährleistet ist, wollen sie vor allem mit anderen klugen Menschen zusammenarbeiten und herausgefordert werden. In diesen Dimensionen kann man nur schwer mit uns konkurrieren.
Könnten Sie sich vorstellen, selbst einmal wieder zu einem Hedgefonds zurückzugehen?
Das würde mir sehr schwerfallen. Ich habe vor, noch an meinem Todestag ein Video zu machen. Aber der ist hoffentlich erst in über 50 Jahren.
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