Als Michelle Phan ihren Studentenjob als Kellnerin kündigte, um sich auf ihre Youtube-Karriere zu konzentrieren, stieß sie damit auf breites Unverständnis. „Das war auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise – alle dachten, ich sei verrückt“, sagt die junge Amerikanerin vietnamesischer Abstammung. Es war der Herbst 2008, kurz nach der Pleite der Investmentbank Lehman Brothers. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um sich vom regelmäßigen Einkommen loszusagen und stattdessen im College-Schlafzimmer Videos mit Schminktipps aufzunehmen. Aber: „Es war ein kalkuliertes Risiko“, sagt Phan. „Ich habe darauf geachtet, dass ich auf Youtube mindestens soviel einnahm wie beim Kellnern.“ Dank ihres wachsenden Publikums waren schnell Werbekunden aufmerksam geworden.
Heute ist die 28-Jährige ein Make-up-Mogul sondergleichen. „Zufällig Millionärin“, titelten US-Medien über Phan. Wie viel sie tatsächlich verdient, möchte sie nicht in der Zeitung stehen sehen. Die öffentlich zugänglichen Zahlen lassen vermuten, dass es nicht wenig ist: Mehr als eine Milliarde Mal wurden die Make-up-Tutorials des Sponsoren-Lieblings bisher angesehen, davon ihr erfolgreichstes – „Barbie Transformation“ – allein knapp 60 Millionen Mal. Insgesamt hat Phan schon mehr als 300 Videos produziert. 7,4 Millionen Abonnenten warten darauf, dass sie regelmäßig neue herausbringt. Sie hat ihre eigene Make-up-Linie und einen Kosmetik-Club, der monatlich für zehn Dollar sogenannte „Glam Bags“ mit Probeartikeln an rund eine Million Mitglieder verschickt.
Inhalte wie am Fließband
Phan ist das Vorzeigekind für die disruptive Kraft der „Youtube Economy“. Die 2005 gegründete und im Jahr darauf von Google übernommene Videoplattform hat sich zu einem bedeutenden Unterhaltungskonzern mit ertragreichem Geschäftsmodell entwickelt. Mehr als drei Milliarden Dollar an Werbeumsatz hat Youtube laut dem Marktforschungsunternehmen eMarketer im vergangenen Jahr weltweit eingenommen – ein Anstieg um mehr als 60 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Eine Milliarde Zuschauer um den gesamten Globus zählt das Portal der Bloomberg Businessweek zufolge jeden Monat, zusammengerechnet sehen sie sich sechs Millionen Stunden Videomaterial an. Pro Minute werden im Schnitt 100 weitere Stunden hochgeladen. Vor allem junge Menschen, die für die Werbewirtschaft attraktiven Millennials, treiben sich auf der Plattform herum.
Die New York Times hat das die „DIY Entertainment Revolution“ genannt, die Revolution der Unterhaltungsbranche zum Selbermachen. Verfechter sehen hier die Zukunft des Fernsehens: Youtube stehe heute da, wo Kabelfernsehen in den 1980er Jahren stand – vor der Eroberung sämtlicher Haushalte und Werbebudgets. Wie damals CNN, MTV und RTL in Deutschland formieren sich auch heute ganze Sender und Netzwerke. Mit der Youtube Economy wachsen nicht nur Superstars wie Phan, sondern ganze Programm-Maschinerien. Produktionsfirmen liefern neue Inhalte wie am Fließband; etablierte Größen wie Disney, Comcast, Hearst Warner Bros., ProSiebenSat.1 und die RTL-Gruppe – eigenen Angaben zufolge einer der größten Investoren weltweit – kaufen sich ein, um den Anschluss nicht zu verpassen. „Es herrscht wahre Aufbruchstimmung“, sagt eMarketer-Analyst David Hallerman.
Lange Zeit war Youtube vor allem als Plattform für Tiervideos und andere Albernheiten bekannt. Um den Unmengen an Material Herr zu werden, qualitativ hochwertigere Inhalte zu fördern und sich damit für Werbekunden attraktiver zu machen, zog das Unternehmen vor gut zwei Jahren weitreichende Reformen durch. Per neu aufgelegtem Partnerprogramm vereinfachte der Mutterkonzern Google die Vermarktung von Werbeplätzen: Mit einem einfachen Klick stimmen Urheber der Schaltung von Anzeigen in ihren Videos zu. Dafür erhalten sie einen Teil der Werbeeinnahmen. Außerdem spendierte das Unternehmen mehr als 100 regelmäßigen Videoproduzenten siebenstellige Fördersummen. Zwölf der geförderten Projekte stammten aus Deutschland, darunter große Produktionsfirmen wie Endemol. In Los Angeles, New York, Tokio und London eröffnete Youtube moderne Produktionsstudios, in denen Start-ups gratis arbeiten und Schulungen besuchen können. Einige dieser Jungfirmen konzentrierten sich darauf, die chaotisch wachsende Menge an Inhalten zu bündeln, und zwar in sogenannten „Multi-Channel-Netzwerken“, ähnlich den Sendergruppen beim Kabelfernsehen.
Die Strategie: Finanzielle Anschubhilfe sorgt für Videos von besserer Qualität, diese ziehen mehr Zuschauer und so immer mehr Werbekunden an, wodurch sich für Letztere immer höhere Preise rechtfertigen lassen. „Die große Hoffnung ist, dass dies letztendlich Youtubes volles Geschäftspotenzial entfaltet und alle unerhört reich macht“, schrieb die Bloomberg Businessweek in ihrer Titelgeschichte über „Hollywood’s-Youtube-Hitfabrik“.
Bei Phan hat das funktioniert. Mit der Finanzspritze von Youtube gründete sie ihr eigenes Netzwerk, das sich auf Lifestyle-Themen für Frauen spezialisiert hat. Eine ihrer ersten Entdeckungen für den Kanal war Bethany Mota: Deren Videoblog dreht sich um Klamotten, Rezepte sowie Heimwerkideen und erreicht mittlerweile über acht Millionen Abonnenten.
Doch große ökonomische Erfolgsgeschichten wie die Phans sind die Ausnahme und große Sponsorendeals wie die, die sie zur Millionärin gemacht haben, selten. Die meisten Unternehmer in der Branche sind maßgeblich auf ihre Anteile an den Werbeeinnahmen angewiesen. Youtubes gesamter Werbeumsatz von drei Milliarden Dollar klingt nach viel – verteilt auf die zahlreichen, unterschiedlich erfolgreichen Anbieter bleibt mitunter wenig übrig.
Deshalb hat sich bei einigen Produzenten eine gewisse Ernüchterung eingestellt: Ihr Geschäftsmodell lohnt sich womöglich doch nicht. Offiziell spricht niemand darüber, doch weithin kursiert eine Zahl: Angeblich behalte Youtube satte 45 Prozent an den Werbeumsätzen ein.
Das ist viel, gemessen daran, dass nicht Youtube, sondern die Produzenten selbst den Löwenanteil der nötigen Investitionen stemmen müssen. Während die Kosten für die Produktion immer originellerer Inhalte steigen, drückt der enorme Wettbewerbsdruck die Werbepreise nach unten. So verdient etwa Youtube-Sternchen Olga Kay, mit ihren Comedy-Videos, knapp 73 Millionen Aufrufen und 750.000 Abonnenten zwischen 100.000 und 130.000 Dollar im Jahr, wie sie der New York Times erzählte. Das ist viel, aber sehr viel davon muss Kay zurück in ihr Geschäft investieren, vor allem für Mitarbeiter, technische Ausrüstung und Fanartikel. „Wir sind unterbezahlt“, sagte sie. „Wir müssen uns nicht nur selbst Vermarktungskonzepte ausdenken und unsere loyalen Zuschauer anzapfen, wir müssen uns auch selbst vermarkten. Alle diese Jobs machen wir für eine ziemlich geringe Aufwandsentschädigung.“
Kaum laufende Kosten
Noch deutlicher wurde der New Yorker Internetunternehmer Jason Calacanis. Seine Klage ist weniger durch persönliche Geldknappheit motiviert als durch das Kalkül eines erfolgreichen Geschäftsmanns. In einem Blogartikel bezeichnete er Youtubes Konditionen als unfair.
Calacanis hatte zuvor rund eine Million Dollar bekommen, damit seine Firma mehr von ihren populären Kochvideos produzierte. Obwohl diese bis zu 30 Millionen Zuschauer im Monat und mehr als eine Million Abonnenten erreichen, schlug Calacanis ein weitere Finanzierungsrunde von Youtube aus. „Klar, Youtube ist großartig fürs Marketing, für Einzelpersonen und Firmen, die ein großes Publikum erreichen wollen. Aber als Geschäftsangebot ist es eine Falle“, meint er.
Dafür sei vor allem die „absurde 45-prozentige Youtube-Steuer“ verantwortlich, die das Unternehmen von den Anbietern für die Nutzung der Plattform nimmt. Das stehe in keinem Verhältnis, schließlich produziere der Konzern selbst keine Inhalte und habe kaum laufende Kosten. Youtube schere sich nicht um die Profitabilität einzelner Marken. „Sie können eingehen, wachsen oder auf der Stelle treten, aber solange Youtube tonnenweise Datenverkehr hat und die Beziehungen mit den Anzeigenkunden kontrolliert, gewinnen sie.“
Womöglich löst sich der Ärger bald in Wohlgefallen auf – durch eine Verbreiterung der Einnahmebasis von Youtube. Das Unternehmen testet derzeit ein zahlungspflichtiges Modell für die bisher gratis zu habenden Abonnements. Spielen die Nutzer mit, dann bleibt aber noch die Frage, ob und wie Youtube seine Produzenten an den neuen Einnahmen teilhaben lassen wird.
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