Appell, Appell

Kehrseite "Stillgestanden. Augen geradeaus. Zur Meldung an die Freundschaftsratsvorsitzende die Augen links!" Ich hob die Handkante über das Käppi und dann ...

"Stillgestanden. Augen geradeaus. Zur Meldung an die Freundschaftsratsvorsitzende die Augen links!" Ich hob die Handkante über das Käppi und dann standen die Gruppenratsvorsitzenden vor mir Schlange. "Ich melde, Klasse 5a ist vollzählig zum Appell angetreten." Erst kürzlich habe ich meiner Freundin Barbara, einer gebürtigen Schwäbin, erklärt, wer ich da war und warum man mir Meldung erstattete. Ich war Freundschaftsratsvorsitzende, FRV abgekürzt, der oberste Thälmannpionier der Schule. Und Thälmannpionier wurde ich in der vierten Klasse, nachdem ich drei Jahre lang Jungpionier war.

Wurde das jeder und automatisch? fragte sie. Nein, ja. Meine Schulfreundin Janet war kein Jungpionier. (Eine weibliche Fassung von Pionier gibt es nicht.) Sie war Pfarrerstochter. Später wurde sie aber Thälmannpionier und in der FDJ war sie auch. Sie wollte dabei sein, nicht mehr die einzige in der Klasse, die Mittwochnachmittags nicht mitkommen durfte, denn da war Pioniernachmittag. Jede Woche?

Ich kam ins Grübeln. Barbara wartete geduldig. Ich erinnere mich noch an die dauernde Anspannung. In der großen Pause rannte ich ins Pionierleiterzimmer, die anderen spielten und aßen im Hof. Birgit, eine kleine Frau mit furchtbar schriller Stimme, gab mir die Termine für die Woche. Dann kam ich zu spät in die nächste Stunde, der Lehrer winkte mich verständnisvoll auf meinen Platz, jeder andere hätte sich einen tadelnden Spruch eingefangen. Und das war mein Verhängnis, sagte ich Barbara, immer zwischen Baum und Borke. Näher bei den Lehrern, den Autoritäten, als bei meinen Mitschülern.

Ich war Teil einer Hierarchie. Oben zu sein gab mir Stolz und Anerkennung, aber oben zu sein machte mich einsam. Barbara nickte. Ein Gefühl von Vergeblichkeit beschlich mich bereits damals. Wer wollte schon freiwillig was von seinen paar Groschen Taschengeld noch für Soli (Solidarität) abgeben. Oder nach den Schularbeiten im Hort sich noch Vorträge über die Geschichte der Klassenkämpfe in Köpenick anhören. Appell war da was anderes, da fiel manchmal wenigstens ein bisschen Unterricht aus. Andererseits, aus meiner Perspektive vor dem Fahnenmast, war es für alle außer mir ein Riesengaudi. Da wurde geschubst und getuschelt, gelacht und in den Himmel gesehen, und ich hatte der gesamten Schülerbande der Klassen eins bis vier die Bedeutung von Thälmanns Geburtstag oder dem Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution zu vermitteln. Birgit stand mir zur Seite. "Augen geradeaus! Hisst Flagge." Ich war zwölf, als ich tagelang damit beschäftigt war, die ganzen Befehle auswendig zu lernen. "Hisst Flagge" war einer der undurchsichtigsten. Noch als ich "im Amt" war, bekam ich eines Tages eine neue Zahnspange. Ich bin heulend durch den Treptower Park nach Hause gelaufen, weil ich nur noch zischte bei jedem S-Laut. Was habe ich da geübt! Sch, sch, sch, hischt Flagge!

Meine stellvertretende Freundschaftsratsvorsitzende habe ich später in der Psychiatrischen Klinik der Charité wiedergetroffen. Sie ist Psychologin geworden. Bei ihr zu Hause haben sie immer gesagt, das erzählst du nicht in der Schule! Westfernsehen, Verwandtenbesuche ... und sie war der zweitoberste Pionier der Schule. Kein Widerspruch für sie als Kind, sagte Katrin, und ich meinte bei unserem Wiedersehen, vielleicht kein Wunder, dass du jetzt schizophrene Patienten behandelst. Dass wir beide erst als Erwachsene miteinander lachen konnten, stimmte uns traurig. Als Kinder waren wir kleine Funktionäre, mit Käppi, Halstuch, weißer Bluse und blauem Rock. Wir grüßten militärisch, "unterhielten" uns über die Tagesordnung bei der Freundschaftsratssitzung und kannten uns nicht. Geschwister? Vorlieben? Geschmäcker? Nichts. Stattdessen fuhr ich jedes Jahr im Sommer ins Pionierlager. Natürlich war dort auch Appell. Hinter den Dünen, auf Rügen, wir hörten das Meer rauschen. Prora war nicht weit weg. Aber das erfuhr ich erst sehr viel später.

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