Patriarchale Verfügungsmacht

Kindesmissbrauch Auch beim systematischen Zugriff auf Minderjährige geht es um patriarchale Strukturen
Ausgabe 34/2020
Es reicht damit: Auch die Möglichkeit der Überschreitung der psychischen und physischen Grenzen von Frauen, Kindern und anderen als schwächer gelesenen Personen ist Kern des patriarchalen Geschlechterverhältnisses
Es reicht damit: Auch die Möglichkeit der Überschreitung der psychischen und physischen Grenzen von Frauen, Kindern und anderen als schwächer gelesenen Personen ist Kern des patriarchalen Geschlechterverhältnisses

Foto: Imago Images/IPON

Die Berichterstattung ist von Superlativen und Fassungslosigkeit gekennzeichnet. Über „riesige Mengen“ kinderpornografischen Materials mit „monströsen Details“ wird berichtet, von einer „Parallelwelt im Netz“ hinter der „perfekten bürgerlichen Fassade“. Die Beobachter des Prozessbeginns gegen einen zentralen Verdächtigen im Missbrauchskomplex in Bergisch-Gladbach zeigen sich schockiert. Dem 43-Jährigen werden 79 Straftaten vorgeworfen: schwerer sexueller Missbrauch von Kindern, Herstellung und Verbreitung kinderpornografischer Schriften, Vergewaltigung und Verabredung zu einem Verbrechen. Unter anderem soll Jörg L. seine Tochter vom Säuglingsalter an sexuell missbraucht und Aufnahmen davon im Internet verbreitet haben. Ermittlungsbehörden stießen auf digitale Kontakte zu Tausenden weiteren Verdächtigen.

Das Ausmaß dieser jüngst aufgedeckten Fälle ist erschreckend. Allerdings ist der sexualisierte Zugriff auf vermeintlich Schwächere und Wehrlose keine besondere Abartigkeit oder gar Ausdruck einer psychischen Erkrankung. Vielmehr bildet die Möglichkeit der Überschreitung der psychischen und physischen Grenzen von Frauen, Kindern und anderen als schwächer gelesenen Personen den Kern des patriarchalen Geschlechterverhältnisses.

Die Verfügungsgewalt über untergeordnete Körper zu haben und sie ungestraft anwenden zu können ist das Versprechen an den heterosexuellen weißen Mann – es bildet sein Privileg. Wie stark dieses verteidigt wird, wurde etwa in den Abwehrversuchen der Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe Ende der 1990er-Jahre sichtbar – oder in der #metoo-Debatte, die zuletzt mit dem Argument abgetan wurde, man dürfe nicht einmal mehr flirten.

Auch bei dem systematischen Zugriff auf ein Kleinkind geht es um Verfügungsmacht. Jörg L. wäre vielleicht davongekommen, wenn er sich diese nicht durch das Teilen von Bildern und Videos bestätigen lassen hätte. Die Erzählung von der „Monstrosität“ in der „Parallelwelt“ lenkt von einer wichtigen Einsicht ab: Dies ist in unserer gemeinsamen Welt passiert. Der Zugriff ist alltäglich.

Kirsten Achtelik arbeitet als freie Journalistin zu feministischen und behindertenpolitischen Themen

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