An der Seite des Monsters

Uganda Im Alter von elf Jahren wird Evelyn Amony von Rebellen entführt. Als sie 13 ist, macht Warlord Joseph Kony sie zu seiner Geliebten
Ausgabe 16/2018

Es war im August 1994, als die Rebellen unseren Hof überfielen.“ Evelyn Amony starrt vor sich in die sanft geschwungene Ebene trockenen Buschlands, das bis zum Horizont reicht. Ihre schwarzen Augen suchen keinen Kontakt. Die Arme hält sie verschränkt vor ihrem kräftigen Leib. Sie atmet tief, versucht sich zusammenzureißen, damit die Erinnerung nicht zu schwer wird. Doch dann kann sie die Tränen nicht mehr zurückhalten.

Amony steht inmitten des Buschlands von Kalalo, ein paar hundert Meter entfernt von der Hauptstraße nach Atiak im äußersten Norden Ugandas. Die Grenze zum Südsudan ist keine 40 Kilometer entfernt. Bis 2006 wütete in dieser Region einer der brutalsten Rebellenkriege in der Geschichte Afrikas. Fast zwei Jahrzehnte lang kämpften die Schwadronen der christlich-fundamentalistischen Lord’s Resistance Army (LRA) gegen die ugandischen Streitkräfte und wollten eine unabhängige Provinz. Es wurden Dörfer geplündert und niedergebrannt. LRA-Kombattanten rissen Kinder nachts aus dem Schlaf, um sie für ihre Armee zu rekrutieren und in einer Weise zu drillen, dass sie dazu bereit waren, notfalls Eltern und Geschwister zu töten. Aus den Mädchen machten sie Handlanger, die später den Rebellen vor allem als „Ehefrauen“ dienten. Evelyn Amony war elf Jahre alt, als sie entführt wurde.

Die kleine Rundhüttensiedlung, in der sie einst aufwuchs, wurde während der 1990er Jahre im Bürgerkrieg zerstört. Nur zwei Mangobäume auf der Anhöhe erinnern heute noch an Evelyns Zuhause. „Ich kam von der Schule“, beginnt sie leise zu erzählen und deutet in Richtung Hauptstraße. „Sie warteten auf dem Hof.“ Ihre rechte Daumenkuppe malträtiert die Innenfläche ihrer linken Hand. „Sie waren geschickt worden, um uns Kinder für den Buschkrieg zu rauben. Meine Mutter war zum Wasserholen, also bin ich nebenan ins Haus meiner Großmutter gerannt. Die Rebellen stürmten von Hütte zu Hütte, traten Großmutters Tür ein. Sie rissen mich von ihr weg und brüllten, sie würden mich töten, wenn sie mich nicht gehen ließe. Sie stießen mich in den Innenhof zu einer Freundin und einem Cousin, die sie bereits als neue Rekruten ausgesucht hatten. Dann warfen sie uns Berge von Diebesgut zu, das sie in der Siedlung zusammengeraubt hatten, und stießen uns Kinder damit vorwärts in den Busch.“

Heute ist Evelyn Amony 34 Jahre alt und eine stille Frau. Sie spricht bedächtig, leise, lächelt dabei viel. Was ihr widerfuhr, war das Schlimmste, was einem Kind zustoßen konnte. Sie teilt das Schicksal mit Zehntausenden Kindern in Norduganda, die einst ihren Familien entrissen wurden, um der LRA und ihrem selbst ernannten Propheten und Anführer Joseph Kony zu dienen. Amony verbrachte elf Jahre in ihren Reihen. Wie die anderen Buschkinder schleppte sie barfuß und mit blutenden Füßen tagelang Lasten durch den Busch bis in den Südsudan, wo sich Kony mit seinem Anhang eine Zeitlang vor der ugandischen Armee versteckte. „Wenn du nach tagelangem Marschieren gestolpert bist, haben sie dir in den Kopf geschossen. Wenn du nach Hause wolltest, haben sie dir in den Kopf geschossen – auch wenn sie spürten, dass du Angst hattest.“ Sie höre manchmal noch die Schreie der Kinder, die zu Tode geprügelt wurden, nachdem sie vor Erschöpfung zusammenbrachen. Sie habe damals eine Entscheidung getroffen. „Gehorche, sonst wirst du getötet.“ Sie hat sich ihrem Schicksal gefügt und dabei oft den schnellen Tod gewünscht.

Da war er. Ein fröhlicher Typ

Evelyn Amony sollte dem Buschkrieg näher kommen als jede der anderen Frauen. Sie begegnete dem „Schlächter von Uganda“, wie Joseph Kony genannt wurde, zum ersten Mal mit 13 in einem der Buschcamps der LRA. „Er wirkte nicht, wie ich ihn mir nach den Erzählungen der anderen vorgestellt hatte. Kein kleiner, dicklicher Mann mit brutaler Visage, kein Monster, das ohne Gewissen tötet. Kony war groß, ein fröhlicher Typ, der andauernd scherzte und schallend darüber lachte.“ Der Warlord fand Gefallen an dem stillen Mädchen. Mit 13 machte er Amony zur liebsten seiner 27 Geliebten.

Seine Brutalität sollte sie schnell kennenlernen. Anfangs habe er sie nur bedrängt. Um ihm zu entkommen, versteckte sie sich nachts. „Dann ist er irgendwann zu mir gekommen und hat die Tür hinter sich geschlossen“, sagt sie. Evelyn wurde beim ersten Mal schwanger. Mit 14 gebar sie die erste Tochter des Tyrannen. Zwei weitere Mädchen sollten folgen. Kony gab ihrer Erstgeborenen den Namen Bakita – „Schicksal“.

Im Hof eines kleinen Anwesens nahe Gulu, etwa 50 Kilometer südlich von Atiak, tobt eine Handvoll Kinder durch den Garten. Evelyn wohnt dort heute mit ihrem neuen Ehemann Issa Mubarak und den Kindern. Kim ist die Jüngste und ihre gemeinsame Tochter, Rebecca ein Nachkriegskind, das von einem anderen Mann stammt. Bakita (20) und Grace (12) sind Kony-Töchter. Die dritte Kony-Tochter Winnie ist bei einem der Luftangriffe der Armee im Busch verloren gegangen. Noch heute breche es ihr das Herz, wenn sie daran denke, gesteht Amony. Sie hat ihre Erinnerungen an die Zeit als Konys Ehefrau niederschreiben lassen. Das Buch I Am Evelyn Amony wurde 2015 international veröffentlicht. Darin wird die tägliche Angst ums nackte Überleben beschrieben und ein Bild Konys gezeichnet, der sich derzeit vermutlich mit dem Rest seiner versprengten Truppen irgendwo im zentralafrikanischen Dschungel oder im Südsudan versteckt hält. Kony gilt inzwischen als der meistgesuchte Warlord weltweit und wurde vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag des Massenmords angeklagt.

Wie empfindet sie es heute, die Kinder dieses Mannes aufzuziehen? „Meine Kinder können nichts dafür“, sagt sie entschieden, während sie sich aus dem Bastkörbchen zu ihren Füßen Perlen greift, die zu einer Kette aufgefädelt werden. Besonders mit Bakita verbinde sie eine nahezu komplizenhafte Beziehung. „Meine Älteste kennt ihren Vater. Sie hat den Krieg bewusst erlebt und geholfen, ihre jüngere Schwester Grace durchzubringen.“ Ihr jetziger Mann Issa bringe Verständnis für sie auf, weil auch er einst von der LRA entführt und gezwungen wurde, als Kindersoldat für die Rebellen zu kämpfen. „Issa hat die Kinder angenommen“, sagt Amony. Sie habe damit großes Glück, denn die meisten Frauen, die mit Kindern der Rebellen aus dem Busch heimkehrten, blieben später allein, weil die vom Krieg traumatisierten Männer keine Rebellenkinder großziehen wollten, wie das ihre Freundin Vicky erfahren musste.

Victoria Nyanjura war eines von 139 Mädchen, die Konys Schergen im Oktober 1996 bei einem Überfall auf die St.-Mary’s-Mädchenschule in Aboke kidnappten. Der Fall ging als „Aboke-Entführung“ in die Geschichte ein. Einige der Mädchen kamen noch am selben Tag frei, die meisten anderen nahmen die Rebellen mit. Vicky wurde einem LRA-Kommandanten zur Ehefrau gegeben. Sie ist eine von 25 dieser „Aboke-Girls“, die den Busch überlebten, und kehrte mit zwei Kindern nach Gulu zurück.

„Ich habe nie töten müssen“

Vicky und Evelyn setzen sich heute für betroffene Frauen ein. Vicky als Sozialarbeiterin, Evelyn leitet ein Netzwerk zur Wiedereingliederung für Frauen aus dem Busch. „Ich hatte Privilegien, die mitgefangenen Frauen verwehrt blieben“, begründet sie ihr Engagement. „Wir fertigen Schmuck und verkaufen ihn mit anderen Handarbeiten bis in die Hauptstadt Kampala. Jede der Frauen soll lernen, eigenes Geld zu verdienen, um sich und ihre Kinder zu versorgen.“ Aber das sei nur ein wirtschaftlicher Nebeneffekt. Beschäftigung verschaffe diesen Frauen Anerkennung und Würde, Gefühle, die ihnen im Busch genommen wurden.

Alle Frauen im Netzwerk sind mit Kindern aus dem Busch zurückgekehrt, von der eigenen Familie abgelehnt und von den Dorfbewohnern oft als „Rebellenhuren“ oder „Mörderinnen“ beschimpft. Doch wenn Unterstützung fehlt, fangen die Probleme erst richtig an. „Viele Frauen sind gebrochen und verroht zurückgekehrt. Sie projizieren die Wut über den Kindsvater nun auf ihre Kinder. Viele quälen Schuldgefühle“, sagt Amony. Nichts sei schlimmer, als sie damit allein zu lassen.

Noch heute stehen die Menschen in den ehemaligen Kriegsgebieten reihenweise unter Schock. Jede Familie im Distrikt Gulu ist vom Krieg gezeichnet. Fast alle haben Mütter, Väter, Brüder oder Schwestern durch die Rebellen verloren, viele mussten jahrzehntelang in den Flüchtlingscamps der Regierung hausen.

Zwar haben Hilfsorganisationen die Opfer nach Kriegsende psychisch betreut, doch ist die Akut-Hilfe lange vorbei. Die ugandische Regierung unter Präsident Museveni müsste längst Verantwortung übernehmen in Sachen Aufarbeitung, zeigt aber wenig Interesse am Norden. Wann ist man Opfer, wann wird man zum Täter? Bis heute muss sich Evelyn Amony noch oft damit auseinandersetzen. Nicht zuletzt in ihrer eigenen Familie.

„Die Verwandten setzen meinen Mann Issa unter Druck. Ich sei immer noch Konys Ehefrau.“ So zumindest sehe es der Warlord selbst. Was wenn er eines Tages zurückkehrt? Was, wenn er von ihrem Buch erfährt? Eine Sorge, die Evelyn durchaus teilt.

Derzeit verhandelt der Haager Strafgerichtshof einen derartigen Fall, den des Dominic Ongwen. Der ehemalige LRA-Kommandant und Vertraute Konys muss sich als Erster aus der Führungsriege der LRA vor diesem Tribunal verantworten. Ongwen ist in 70 Fällen wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt – wegen Folter, Verstümmelung, Vergewaltigung und Zwangsprostitution. Ongwen, 43 Jahre alt, verteidigt sich damit, dass er als Kind ebenfalls von der LRA entführt und zum Kindersoldaten gedrillt wurde. Allerdings hat er als Erwachsener ohne jeden Skrupel Menschen gequält und ermordet.

Fühlt sich Evelyn Amony als einstige Geliebte Konys schuldig? „Nein“, sagt sie entschieden. „Ich habe nie einen Menschen töten müssen. Ich fühle mich meiner Jugend beraubt und der Chancen, die ich heute hätte, wäre ich nicht entführt worden.“ Was ständig beschäftigt, das ist die Gewissheit, dass sie ihr Leben lang mit Kony verbunden bleibt. Ihr Buch I Am Evelyn Amony sei für die Töchter geschrieben worden. „Sie sollen wissen, was ich als Kind erlebt habe, wer ihr Vater ist und was er getan hat.“ Bakita hat das Buch angefangen und immer wieder weggelegt. Eine Zeitlang ging sie in Gulu zur Schule. Jetzt ist sie auf einem Internat in der Hauptstadt Kampala. „Es ist besser, wenn sie anonym bleibt“, sagt ihre Mutter. Ihre Schwester Grace wisse bis heute nicht, dass Kony ihr Vater sei. „Ich werde es ihr erzählen. Auch Grace soll das Buch lesen. Irgendwann ...“

Kirsten Milhahn lebt in Nairobi und arbeitet als freie Afrika-Korrespondentin

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