Erinnern Sie sich an das „doppelte Erschrecken“ aus dem Text Staatsbürgerkunde von Heinz Rudolf Kunze? „Erst das Erschrecken beim Knacken in der Leitung, dann das Erschrecken über dieses Erschrecken.“ Von 1986 stammt das Zitat und spiegelt die damals allgegenwärtige Angst vor dem Verfassungsschutz in der linken Szene wider. Das gleiche mulmige Gefühl überkommt einen in Horst Eckerts Im Namen der Lüge. Jeder könnte ein Spitzel sein. Auch die RAF ist wieder da – zumindest gibt es Gerüchte, dass eine vierte Generation aktiv wird. Befeuert wird dies durch den Überfall auf einen Geldtransporter, der von RAF-Rentnern ausgeführt wurde, wie die DNS-Spuren belegen. Zudem kursiert offenbar ein Strategiepapier in Antifa-Kreisen, das die Notwendigkeit einer Stadtguerilla erklärt. Droht dem Staat ein bewaffneter Kampf? Eine neue Welle des Linksterrorismus nach so langer Zeit?
Für Melia Khalid ist das keine Frage, sondern eine Tatsache. Für die Leiterin des Referats Linksextremismus beim Verfassungsschutz ist die Gefahr von links keine abstrakte Idee. Auf Drängen ihres Vorgesetzten reaktiviert Khalid einen ehemaligen V-Mann in der linken Szene, der inzwischen einen Buchladen in Düsseldorf betreibt – vor Jahren soll er unter anderem Wolfgang Grams an die Behörden verraten haben (Sie erinnern sich an Bad Kleinen 1993 und die offenen Fragen?). Khalid sorgt mit einem fingierten Anschlag auf den Buchladen dafür, dass dieser zum Sammelpunkt der linken Szene wird – natürlich erst nachdem ausreichend Mikros zum Abhören aller Treffen installiert sind.
Melia Khalid ist die Tochter einer Somalierin und eines konservativen bio-deutschen Politikers. Wegen ihrer dunklen Hautfarbe vermutet niemand in den Antifa-Reihen in ihr die Agentin – innerhalb der Behörde hat sie durchaus einen schweren Stand deswegen. Khalid ist von der Richtigkeit ihres Handelns überzeugt: Linksextremismus sei mindestens so gefährlich wie Rechtsextremismus, darum muss die Szene unter scharfer Beobachtung bleiben. Dafür manipuliert Khalid die öffentliche Meinung, gibt gezielt Informationen an die Medien, ist sich für die eine oder andere Schweinerei nicht zu schade.
Ein Anschlag auf die AfD-Zentrale in Düsseldorf weckt jedoch erste Zweifel bei Khalid: Woher stammen die Informationen wirklich, die ihr zugespielt wurden? Welche Absichten verfolgen die Kollegen vom Referat Rechtsextremismus?
Befeuert werden ihre Zweifel durch die Ermittlungen von Vincent Che Veih. Der Hauptkommissar der Düsseldorfer Kriminalpolizei untersucht nämlich zeitgleich einen Mord im Reichsbürgermilieu, es gibt da ein paar Ungereimtheiten. Die Fälle laufen natürlich zusammen und führen immer tiefer in erschreckende Verquickungen von Politik, Verfassungsschutz, Wehrsportgruppen, Polizei und (ehemalige) Eliteeinheiten der Bundeswehr.
Er ist Sohn einer Terroristin
Im Namen der Lüge ist Horst Eckerts vierter Thriller mit Veih. Dieser ist der Sohn einer Terroristin der zweiten Generation der RAF. Kein leichtes Erbe für einen Beamten. Allerdings ein Erbe, das ihm eine gesunde Portion Skepsis beschert hat – zum Beispiel wenn es um den Verfassungsschutz geht. In Wolfsspinne (2016) hinterfragt er dessen Rolle bei den Verbrechen des NSU; in Schattenboxer (2015) geht es unter anderem um die Frage, ob Detlev Karsten Rohwedder wirklich von der RAF getötet wurde. In Im Namen der Lüge steht er nicht allein im Mittelpunkt, sondern teilt ihn sich mit Melia Khalid und ihren wachsenden Zweifeln an ihrem Arbeitgeber. Ob der aktuelle Thriller der Auftakt einer neuen Reihe um Khalid ist, lässt Horst Eckert offen. Sein Roman sei eine Fiktion, zumindest was den Plot angeht. Dennoch legt der Autor viel Wert auf Realitätsnähe. Für seine Recherchen nutzt er öffentlich zugängliche Quellen und denkt die Fakten weiter. Während er an Im Namen der Lüge arbeitete, sei er dabei mehrfach von der Realität überholt worden, sagt er in einem Gespräch. ZumBeispiel war die Wehrsportgruppe „Westkreuz“ eine Erfindung, bis die Ermittlungen zum rechtsextremem Hannibal-Netzwerk eine solche Gruppe aufdeckten. Im Roman wurde „Westkreuz“ vom Ex-Chef des Verfassungsschutzes gegründet ...
Im Namen der Lüge ist zum Glück kein Schlüsselroman – das Beklemmende jedoch ist: Es ist alles denk- und vorstellbar. Und für vieles, was im Roman beschrieben wird, gab es bereits Präzedenzfälle. Horst Eckert will nach eigenem Bekunden mit seinen Romanen vor allem unterhalten. Das hält ihn jedoch nicht davon ab, Position zu beziehen: Die größte Bedrohung für die Demokratie ist in seinen Augen der Rechtsextremismus, der tief in die staatlichen Institutionen hineinreiche – und von diesen zudem benutzt wird, um politische Ziele zu erreichen, allen voran vom Inlandsgeheimdienst, der keiner effektiven demokratischen Kontrolle unterliegt.
Info
Im Namen der Lüge Horst Eckert Heyne 2020, 576 S., 12,99 €
Ende, Anfang
Die Bilder unserer Krimibeilage stammen vom Fotografen Yorgos Yatromanolakis, dem Zeit seines Lebens Naturwanderungen halfen, Inspiration und seinen Frieden zu finden. Die Serie The Splitting of the Chrysalis and the Slow Unfolding of the Wings entstand während eines Heimataufenthaltes des griechischen Künstlers, der hier immer wieder das Thema der Metamorphose behandelt, so ist auch der Titel der Reihe an den Lebenszyklus des Schmetterlings angelehnt. Mehr über Yorgos Yatromanolakis und sein Projekt erfahren Sie auf seiner Internetseite www.yatrom.net
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