Die Farbe des Alleinseins

Theater Katie Mitchell bringt den Essayband „Bluets“ auf die Bühne. Per Knopfdruck und SMS-Vortrag entsteht eine haptische Melancholie
Ausgabe 12/2019

Angenommen, ich würde beginnen, indem ich sagte, ich hätte mich in eine Farbe verliebt.“ So beginnt Bluets. Es ist auch der Beginn des gleichnamigen Prosastücks, das der Inszenierung zugrunde liegt. Maggie Nelson wurde 2017 in Deutschland durch Die Argonauten bekannt, in den USA avancierte der New-York-Times-Bestseller nach seiner Veröffentlichung 2015 rasch zum Klassiker des queeren Schreibens. Bluets erschien vor zehn Jahren in den USA, 2018 auf Deutsch.

Taugt diese Prosa als Theater?

In 240 durchnummerierten Miniaturen nähert sich die Autorin ihrer lang gehegten Obsession, der Farbe Blau. Seit Jahren sammelt sie blaue Gegenstände, sie besucht eine Ausstellung von Yves Klein, der sich bekanntermaßen einen besonderen Ultramarinton patentieren ließ. Sie geht der Bedeutung der Farbe nach in Biologie, Religion, Kunst, Literatur, Physik, Geschichte, Philosophie, Musik. Sie trägt Kurioses zusammen wie das Balzverhalten des Seidenlaubenvogels und berichtet vom Cyanometer, das Horace-Bénédict de Saussure Ende des 18. Jahrhunderts erfand, um das Blau des Himmels zu bestimmen. Es geht um Liebe, Schmerz und Verlust: Auf dem Höhepunkt ihrer Blau-Obsession zerbricht eine (dysfunktional wirkende) Beziehung zum „Prinzen des Blau“, was Maggie Nelson – oder die Erzählstimme – zutiefst verletzt. Ungefähr gleichzeitig hat eine enge Freundin einen schweren Unfall und erleidet unerträgliche Schmerzen.

Taugt diese Prosa für eine Theaterfassung? Ja. Auch weil Regisseurin Katie Mitchell gar nicht erst versucht, der essayistischen Versuchsanordnung eine Handlung überzustülpen. Bluets hat keine, es ist eine Meditation, eine Reflexion, erkenntniserweiternd, klug, zart, mitunter sehr intim, sehr geradeheraus, wenn es um Sex geht.

Mitchells Inszenierung gleicht einer Lesung mit Installation: An einem langen Tisch, den Zuschauern gegenüber, sitzen zwei Schauspielerinnen – Julia Wieninger und Ute Hannig – und zwei Schauspieler – Yorck Dippe und Paul Herwig. Vor ihnen Leselampe, Mikrofone, Kistchen mit Knöpfen, auf die sie wiederholt drücken. Hinter ihnen ein weiterer langer Tisch mit unterschiedlichsten Gegenständen – Kaffeetassen, Gläser, Monitore, Tastaturen, Tablets. Dazu Stative mit Videokameras und nicht recht einzuordnende Apparaturen. Hinter ihnen eine große Leinwand, auf der Filmsequenzen gezeigt werden: ruhige Einstellungen – sich kreuzende Kondensstreifen am Himmel, ein vorbeiziehendes Segelschiff, einmal ein Landeanflug auf London, aber auch Innenräume, Gänge, eine Zugfahrt durch einen Tunnel.

Während Julia Wieninger den Text des Buches vorträgt – verdichtet zu 140 Sequenzen (Dramaturgie: Sybille Meier) –, geben die drei anderen dem Gesagten Bild und Ton: Spricht Wieninger davon, die Finger in ein kleines Puderhäufchen lapisblauen Pigments tauchen zu wollen, tut Ute Hannig genau dies, und per Videokamera werden die Finger im Blau in starker Vergrößerung auf die Leinwand übertragen, ersetzen für wenige Sekunden die Filmaufnahmen. Dippe und Herwig erzeugen am Tisch die passenden Geräusche mit Alltagsgegenständen. Manchmal kommt es zu einer schlichten Dopplung des Gesagten – wenn zum Beispiel die Erzählstimme berichtet, dass sie einst einen Mann getroffen habe, der als Frau verkleidet Blue von Joni Mitchell gesungen habe, dann setzt Hannig Dippe eine blonde Langhaarperücke auf, während er das Lied mit Falsettstimme singt, begleitet von Herwig am Keyboard. Aber oft erweitert die Umsetzung den Text, öffnet ihn für andere Bedeutungsebenen, macht ihn sinnlicher, noch fühlbarer.

Wie im Buch sind es kurze Sequenzen, die hier arrangiert werden, unterteilt per Knopfdruck, ein kurzes „Ping“, dann verkünden Herwig oder Hannig die Ordnungsnummer der nachfolgenden Passage. Per Knopfdruck starten auch die Filmaufnahmen. Werden Goethe, Mallarmé, Schopenhauer oder Ralph Waldo Emerson zitiert, übernimmt einer der Schauspieler das Sprechen, während der andere eine Tonuntermalung dazu liefert: ein Kratzen wie von einem Federkiel auf Papier – erzeugt mit dem Fingernagel an einem Gegenstand vor dem Mikrofon.

Spricht Wieninger, tippt Hannig dazu auf einer Computertastatur, manche kurzen Passagen werden wie SMS vorgetragen, dazu erzeugt Dippe die Tastentöne eines Handys, im Hintergrund sind oft Einspielungen von Stimmengemurmel zu hören, es ist ein fortwährendes Rauschen von Kommunikation.

Auf diese Weise bleibt die Inszenierung eine Inszenierung im Wortsinn, sie hat etwas Werkstatthaftes, indem sie zeigt, wie Ton und Bild erzeugt werden. Das nimmt das Bühnenbild von Alex Eales auf, das an ein Labor erinnert, passend dazu tragen Hannig, Dippe und Herwig graue Anzüge, Laborkitteln ähnlich, lediglich Wieninger eine blaue Bluse.

Die Inszenierung belässt dem Text seinen sehr eigenen Charakter: Wie Maggie Nelson in Bluets schildert, hat ihre Art, zu schreiben, immer etwas Dialogisches, wie ein Brief, „wodurch das Schreiben durch das Prisma des Alleinseins (…) zu einem irgendwie neuartigen und schmerzhaften Experiment wird“. Bluets als Stück spiegelt dies wider und schafft durch die Umsetzung in Ton und Bild eine Art distanzierte Unmittelbarkeit, einen intellektuellen Sog, eine haptische Melancholie. Mitchell gelingt etwas Faszinierendes: die Erzeugung eines reflektierten Rauschs in Blau.

Info

Bluets Regie: Katie Mitchell Malersaal, Deutsches Schauspielhaus Hamburg

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