Fluffige Bombe

Literatur Kate Atkinson nimmt sich das Thema Kindesmissbrauch vor, mit dabei: Jackson Brodie
Ausgabe 16/2021
Schüler:innen an der britischen Privatschule Eton College
Schüler:innen an der britischen Privatschule Eton College

Foto: Graeme Robertson/Getty Images

Vor ein paar Tagen ging durch die Presse, dass Schüler:innen einer britischen Privatschule ein Klima des Missbrauchs und eine „Kultur der Vergewaltigung“ anprangern. Nach dem Tod von Radiomoderator Jimmy Savile im Jahr 2011 wurde bekannt, dass dieser seit den 1960er-Jahren Hunderte von Kindern missbraucht hatte; im Zuge der Ermittlungen wurden zahllose weitere Fälle bekannt, zu den Beschuldigten gehören hochrangige Politiker, Mitarbeiter der Unterhaltungsindustrie, Mitarbeiter in Kinderheimen, Sportvereinen, Schulen. Dazu der von „Grooming“-Banden organisierte systematische Missbrauch von Kindern in Mittelengland über Jahrzehnte hinweg – die Berichte über Vergewaltigung und Kindesmissbrauch im Vereinigten Königreich reißen nicht ab.

Kate Atkinson hat sich in ihrem neuen Roman Weiter Himmel des Themas angenommen – literarisch verfremdet natürlich, aber mit Seitenhieben auf hochrangige britische Politiker, die sich für den Brexit engagieren (das Buch erschien 2019 im Original in Großbritannien). Sie erzählt ihre Geschichte ohne Hysterie oder Empörung, aber mit Wut – und, so seltsam es im ersten Moment scheint: auch mit Leichtigkeit und Humor, sehr trockenem Humor, ins Schwarze gehend. Sie entwirft Szenarien, in denen sich mehrere Erzählstränge verweben, verheddern, wieder lösen. Die Autorin spinnt ein Netz aus Zufällen, Absichten, Konsequenzen, Unfällen, das sich im aktuellen Buch auch auf vorherige Romane erstreckt, ohne dass man diese kennen müsste (allerdings ist es immer eine gute Idee, die Romane von Kate Atkinson zu lesen). Kurz: Sie spannt einen weiten Himmel auf, der Platz für Absurdes wie Erschütterndes, für Makabres wie Urkomisches bietet. Darum bringt es wenig, den Inhalt von Weiter Himmel wiedergeben zu wollen – der ist so vielschichtig, dass man sich darin nur verirren kann. Doch bei aller Komplexität ist jedes einzelne geschilderte Ereignis zwangsläufig, jeder Zusammenhang zwingend, die Geschehnisse in sich vollkommen logisch.

Weiter Himmel ist der fünfte Jackson-Brodie-Roman. Von einer Serie zu sprechen, fällt jedoch schwer. Eigentlich sind es eher „Romane mit Jackson Brodie“. Der Letzte erschien 2010. Der Privatdetektiv steht nicht unbedingt im Mittelpunkt der Bücher, manchmal ist er einfach nur dabei. Nicht immer ermittelt er, und wenn, dann nicht immer erfolgreich. Die Krimis von Kate Atkinson sind keine typischen Detektivromane, mitunter sind sie vielleicht nicht einmal Kriminalromane. Es geht um Verbrechen, ja, diese werden auch aufgeklärt, die meisten Fragen sind am Ende beantwortet, aber nicht immer so, wie es Krimikonventionen nahelegen.

In England? As if!

Kate Atkinson gehört immer noch zu den etwas unterschätzten Autor:innen im deutschsprachigen Raum. Während die Rezensionen ihrer Bücher in der New York Times oder im Guardian komplette Seiten füllen können, findet sie hierzulande nach wie vor recht wenig Aufmerksamkeit. Dabei sind ihre Romane intellektuelle Sprengfallen. Sie kommen so harmlos-fluffig daher und haben doch das Potenzial, das Patriarchat implodieren zu lassen, und zwar eben auf diese äußerst subtile Art und Weise. Dies gilt auch für Weiter Himmel: Während Jackson Brodie mit der Frage hadert, was denn nun männlich ist, versucht ein Transvestit einem Frauenfeind das Leben zu retten, entdeckt ein Profiteur des Frauenhandels seine weinerliche Seite, erheben sich die Frauen, die zu Opfern von Missbrauch gemacht wurden, mit Macht gegen ihre gegenwärtigen und früheren Peiniger. Geschlechterrollen werden durchlässig, alte Rollenmuster zerbrechen – und das auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Strängen.

Atkinson erzählt so präzise, subtil und klug, dass es eine Freude ist. Leider kann die deutsche Übersetzung da nicht immer mithalten. Unschöne Anglizismen nerven, Menschen trinken beharrlich „Malzwhisky“ (immerhin ohne e) oder „eine Halbe“ von irgendeinem Bier. (In England? As if!) Das stört, kann die Eleganz des Atkin’schen Erzählens aber zum Glück nicht nachhaltig mindern.

Info

Weiter Himmel Kate Atkinson Anette Grube (Übers.), DuMont 2021, 475 S., 24 €

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