In einer namenlosen amerikanischen Stadt betreiben die Schwestern Dara und Marie Durant gemeinsam mit Daras Ehemann Charlie eine Ballettschule, die sie von ihrer Mutter übernommen haben. Traditioneller Höhepunkt zum Ende eines jeden Jahres ist die Aufführung von Tschaikowskis Nussknacker. Ein Feuer in der Schule während der Probenzeit sorgt nicht nur für Unruhe, sondern bringt auch den Bauunternehmer Derek ins Haus.
Derek ist die Antithese zu den kultivierten Durant-Schwestern: Grobschlächtig, laut, raumgreifend und primitiv, nimmt er nicht nur die Ballettschule in Beschlag, sondern bohrt sich immer tiefer in das Leben der drei, beschmutzt das, was bislang so unschuldig schien, mit Baustaub und sexualisierten Fantasien. Derek wird zum Katalysator für Entwicklungen, die immer existenzieller, immer bedrohlicher werden und nur in eine Katastrophe münden können.
Die Intensität, mit der die 1971 in Detroit geborene US-Amerikanerin Megan Abbott schreibt, macht den Preis greifbar, der für Eleganz, Leichtigkeit und Anmut gezahlt werden muss. Wadenkompressionsmanschetten, Füße wie rohe Fleischlappen, Askese und Disziplin bis zur Selbstverleugnung. Und vor allem der allgegenwärtige Schmerz, der zum Kern des eigenen Selbst wird. Doch so tief Aus der Balance auch in die Welt des Balletts eindringt: Im Mittelpunkt steht weniger der Alltag der Ballettschule oder des Tanzes als vielmehr die Dynamik innerhalb der und zwischen den Hauptfiguren, die mit dem Eindringen des Fremdkörpers vollständig aus der Balance gerät.
Befreiung oder Zerstörung?
Seit ihrer Kindheit sind Dara, Marie und Charlie zutiefst aufeinander bezogen. Wie in einem Kokon leben sie allein für das Ballett. Abbott inszeniert diese intime Nähe oft über die olfaktorische Ebene, mit einer schmerzhaften Sinnlichkeit. Stechende Gerüche nach Schweiß und Heilsalbe durchziehen den Roman ebenso wie das gemeinsame Wohnhaus. Die alte Ballettschule modert und schimmelt, es riecht nach Angst, Urin, Erbrochenem und Mäusekot, doch bei allem abblätternden Glanz strahlt sie auch Größe aus.
Mit aufdringlichem Aftershave und gebleichten Zähnen bricht Derek in diese morbide Grandezza ein – der Bauunternehmer sprengt die inzestuösen Beziehungsstrukturen ebenso auf wie die alten Tanzböden. Das hat zunächst etwas Befreiendes, doch verfolgt er dabei seine eigene zerstörerische Agenda, bei der die Affäre mit Marie nur der Anfang ist, um sich nicht nur die Tanzschule einzuverleiben.
Präzise und schnörkellos erkundet die Autorin die toxischsten Abgründe von Familienstrukturen und Beziehungen, von Wünschen und Sehnsüchten. Dabei geht es um weit mehr als nur das Auseinanderfallen von hässlichem Sein und glänzendem Schein: Abbott zeigt das untrennbare Ineinander von Kunst und Kommerz, von Tradition und Moderne, Schönheit und Selbstzerstörung, Liebe und Hass, Sex und Gewalt.
Weibliche Obsessionen
E. T. A Hoffmanns düstere Erzählung von Nussknacker und Mäusekönig bildet hierfür Struktur wie Folie: das Erwachen von Sexualität, das Verlangen nach dem Unbekannten, Tabuisierten, die Begierde nach Verführung und Unterwerfung.
Hierzulande ist Abbott bislang kaum bekannt. Dabei ist Aus der Balance bereits ihr zehnter Roman und in den USA ein Bestseller. Wie grandios und abgründig er ist, lässt sich unter anderem daran ablesen, dass er der erste Roman einer Frau ist, die der auf Abgründiges spezialisierte Kult-Verlag Pulp Master veröffentlicht.
Eindringlich bis an die Schmerzgrenze führt Abbott die Leser:innen in die düstersten weiblichen Obsessionen hinein – wie in der Geschichte von der Primaballerina, deren Kostüm an einem Gaslicht Feuer fing und die vor den Augen ihres Publikums in Flammen gehüllt weitertanzte, bis das Korsett schließlich mit den Rippen verschmolzen war: „Das, hatte ihre Mutter ihnen erklärt, ist Liebe.“
Aus der Balance Megan Abbott Karen Gerwig, Angelika Müller (Übers.), Pulp Master 2023, 416 S., 16 €
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