Victoria Iphigenia Warshawski ist wieder da – nach Jahren des Schweigens, zumindest auf dem deutschen Markt. Hierzulande war es um die schlagfertige Privatdetektivin von Sara Paretsky still geworden: Hardball, der zuletzt übersetzte Roman, erschien 2011 – danach folgte nichts mehr, und das, obwohl seit den 1980er Jahren zuverlässig alle Romane der Grande Dame des feministischen Hardboiled-Krimis übersetzt worden waren. In den USA veröffentlichte Paretsky jedoch ungebrochen weiter. Offenbar hatten die größeren deutschen Publikumsverlage das Interesse an ihr verloren. Umso schöner, dass Kritische Masse beim Hamburger Argument Verlag erscheint, der seit Jahren in seiner Reihe Ariadne richtig gute feministische Kriminalromane publiziert.
Die 1947 i
publiziert.Die 1947 in Ames, Iowa geborene Historikerin und Politikwissenschaftlerin Sara Paretsky verbindet wie stets Unterhaltung mit Haltung. In Kritische Masse macht sich V. I. Warshawski für ihre langjährige Freundin Lotty Herschel auf die Suche nach Judy, der drogensüchtigen Tochter von Käthe Binder, einer Bekannten, die gemeinsam mit Lotty Anfang der 1930er Jahre in Wien aufgewachsen war. Zusammen waren die beiden Kinder jüdischer Eltern kurz vor dem Anschluss Österreichs an Nazideutschland nach England geschickt worden.Judy Binder scheint zunächst in gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Methdealern verwickelt zu sein, doch als Warshawski feststellt, dass auch Judys Sohn Martin, ein hochtalentierter Programmierer, verschwunden ist, nimmt der Fall neue Dimensionen an. Martins Arbeitgeber, ein großer Technologiekonzern, fürchtet, er hätte sich mit geheimen Codes zur Konkurrenz abgesetzt. Eine andere Spur führt zurück in die Zeit des Zweiten Weltkriegs, als Martins Urgroßmutter, eine hochbegabte Physikerin, unter menschenunwürdigen Umständen gezwungen war, für das Kernwaffenprogramm der Nazis zu arbeiten.Paretsky erzählt routiniert und mit knochentrockenem Humor. Ihre Figuren sind facettenreich und lebendig, allen voran V. I. Warshawski, die mit Waffen ebenso geschickt umzugehen weiß wie mit Worten. Fernab jedes Frauen-als-Opfer-Klischees muss sie sich nicht trotzig gegen Rollenstereotype wehren, sondern agiert selbstbestimmt und lässt sich von niemandem stoppen – außer von ihrer Vernunft. Das ist sehr angenehm angesichts der Schwemme an traumatisiert-ohnmächtigen Protagonistinnen aus Domestic-Noir-Romänchen, dem Genre-Grauen innerhalb der eigenen vier Wände.Wie stets hat Paretsky einen aufklärerischen Ansatz. So spielt die „Operation Paperclip“ eine Rolle: Im Rahmen dieser Geheimmission wurden nach dem Zweiten Weltkrieg deutsche und österreichische WissenschaftlerInnen in die USA geholt, um deren militärtechnisches Wissen für das Nuklearprogramm zu nutzen, ohne groß in ihrer Nazivergangenheit herumzustochern. Schließlich ging es darum, den Kommunismus abzuwehren.Außerdem geht es um die Marginalisierung von (Natur-)Wissenschaftlerinnen. Vorbild für Martins Großmutter ist die österreichische Physikerin Marietta Blau, die in den 1930er Jahren bahnbrechende Arbeit auf dem Gebiet der kosmischen Strahlung leistete. Sie war Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Radiumforschung in Wien, dem heutigen Stefan Meyer Institut für subatomare Physik. Das Institut stellte zwischen den Weltkriegen offensiv Wissenschaftlerinnen ein, 1938 lag der Frauenanteil bei 38 Prozent. Eine Banalität am Rande, aber doch aufschlussreich: Bis heute ist es das einzige naturwissenschaftliche Institut mit der gleichen Anzahl von Toiletten für Frauen wie für Männer.Dass die Frage der (Un-)Sichtbarkeit von Frauen in den Naturwissenschaften bis heute aktuell ist, sieht man nicht zuletzt an der diesjährigen Nobelpreisträgerin für Physik, Donna Strickland. Sie ist die erste Frau seit mehr als fünfzig Jahren und erst die dritte Frau überhaupt, die den Preis erhält. Noch im Mai 2018 war sie Wikipedia aber zu uninteressant für einen eigenen Eintrag.Antiintellektuelles KlimaSara Paretsky schafft es, Plot und Mission gut miteinander zu verbinden, nie dominiert das Gefühl, belehrt zu werden. Überhaupt ist Kritische Masse gut gebaut, überzeugend geplottet und dank V. I. Warshawskis Unerschrockenheit sehr unterhaltsam. Dennoch wirkt der Roman manchmal seltsam zahm. Ein Grund dafür könnte sein, dass das Buch im Original 2013 erschienen ist, also noch während der Regierungszeit Barack Obamas: Übermäßig erweiterte Machtbefugnisse von Homeland Security, die unter dem Vorwand der nationalen Sicherheit hart an der Grenze der Legalität und dahinter agiert, sowie die große Macht von IT-Konzernen, die im Sicherheitssektor aktiv sind, bilden die schärfsten Kritikpunkte an der Gegenwartspolitik. Daran lässt sich gut ablesen, wie stark sich die Themen verschoben haben seit 2013. Um auf die Diskriminierung von Frauen in Wissenschaft und Gesellschaft hinzuweisen, um ein antiintellektuelles Klima oder die Akzeptanz faschistoider Standpunkte zu beschreiben, wäre heute kein Rückgriff auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg mehr nötig. So aber bleibt der Eindruck zurück, dass es sich um einen eigentlich richtig guten, spannenden Kriminalroman handelt, der wichtige Themen verhandelt, aber am besten in den Kontext seiner Zeit eingeordnet wird.Placeholder infobox-1Placeholder infobox-2