Brüssels Blick nach Zentralasien?

Afghanistan Wollen Brüssel und Berlin Stabilität in Afghanistan, müssen sie Zentralasien miteinbeziehen. Bisher scheint diese Weitsicht zu fehlen.

Nur wenige Wochen nach dem Abzug westlicher Truppen aus Afghanistan haben die Taliban das Land fast vollständig in den Zustand von 2001 zurückversetzt. Berichte der Vereinten Nationen (UN) schildern Gräueltaten gegen die Zivilbevölkerung, insbesondere gegen Frauen, Journalisten und andere Systemkritiker – ein klares Zeichen, dass nach 20 Jahren Kampf nichts Nennenswertes von dem Einsatz übriggeblieben ist.

Es ist daher kaum überraschend, dass das Thema Afghanistan und Frage, wie die Beziehungen zu einem von Islamisten regierten Land langfristig gestaltet werden sollen, im Bundestagswahlkampf von manchen ausgeschlachtet, von anderen heruntergespielt wird. Nicht zuletzt sind die vergangenen Wochen auch eine Bankrotterklärung der Bundesregierung, zumal Bundesaußenminister Heiko Maas, der sich in dieser Position weiß Gott nicht mit Ruhm bekleckert hat, bei einer der wichtigsten außenpolitischen Fragen seiner Amtszeit komplett versagt hat.

Allerdings spannt sich der Bogen bis weit über die Wahl hinaus, denn was die Vorgänge in Kabul eindeutig gezeigt haben, ist, dass es Deutschland – und der Europäischen Union – schwerfallen wird einen akzeptablen Weg zu finden, wie man mit Afghanistan in Zukunft umgehen sollte. Dies gilt nicht nur im Hinblick auf eine erneute Migrationswelle, sondern auch bezüglich politischer Anerkennung des Taliban-Regimes und wirtschaftlicher oder humanitärer Hilfeleistungen.

In Brüssel war man sich in Folge des EU-Innenministertreffens am 31. August zwar schnell einig, dass “vor allem Hilfe vor Ort geleistet” werden und geflohene Afghanen in den benachbarten Regionen des Landes unverzüglich versorgt werden müssten. Doch diese Worthülsen zeigen nur auf, wie wenig von der EU allein zu erwarten ist: zwar wurden nach dem Fall Kabuls wieder die gleichen alten Forderungen nach mehr militärischer Eigenständigkeit der EU oder Reform des europäischen Asylsystems laut, aber nach Jahren des Forderns ist bis heute wenig politischer Wille zur Umsetzung solcher Konzepte zu erkennen.

Dennoch haben die EU-Innenminister in ihrer Pressemeldung einen wichtigen Aspekt angeschnitten, wenn auch nur am alleräußersten Rande – die Rolle der „benachbarten Regionen“, sprich Zentralasien, als Verbündeter der EU bei der Bewältigung der von Afghanistan ausgehenden geopolitischen Fragen und Probleme. Tatsächlich dürfte es jedem in Brüssel, Berlin und sonst wo in der EU klar sein, dass sich ohne die Hilfe von den Zentralasiatischen Staaten in direkter Nähe zu Afghanistan wenig Konkretes erreicht werden kann.

Während die USA und EU-Staaten panisch auf den Fall von Kabul reagierten, beobachtete Zentralasien die Situation mit relativer Ruhe. Auch wenn Usbekistan seine Grenzen sofort für Afghanen schließen ließ, so erklärten sich Tadschikistan und Kasachstan zur Unterstützung bereit. Insbesondere Nur-Sultan kann in diesem Zusammenhang eine tragende Rolle für Afghanistan zukommen. Das Land ist das größte und wirtschaftsstärkste der Region, dessen politischen Interessen bezüglich Afghanistan Großteils mit denen der EU übereinstimmen.

Dies ist durch verschiedene Projekte in Kooperation mit der EU ersichtlich, so zum Beispiel das Schaffen von Studienplätzen für afghanische Frauen in Kasachstan. Im Jahr 2019 wurde ein 2-Millionen-Euro-Programm von der EU, der Vereinten Nationen und Kasachstan ins Leben gerufen, um afghanischen Frauen ein Studium an kasachischen Universitäten zu ermöglichen.

Jenseits dieser bereits bestehenden Kooperation ist die Tatsache nicht zu leugnen, dass Kasachstan ein unentbehrlicher Teil der zentralasiatischen Sicherheitsarchitektur ist. Dies bedeutet eine Führungsrolle in der Bekämpfung des womöglich schon bald von den Taliban geförderten Terrorismus und Drogenhandels. Somit sollte klar sein, dass Kasachstan ein natürlicher Verbündeter für Europa ist. Es ist daher unvorteilhaft, dass einige führende deutsche Politiker sich in diesen Zeiten gegen Kasachstan stellen und dadurch geopolitische Realitäten und Imperative verkennen.

So hat zum Beispiel Jürgen Trittin, ehemaliger Bundesumweltminister und Urgestein der Grünen, zusammen mit seiner Fraktion Kasachstan stets für seine Menschenrechtssituation kritisiert und forderte als Konsequenz, wirtschaftliche Zusammenarbeit zu beschränken. Frank Schwabe (SPD), seines Zeichens Mitglied des deutschen Bundestages sowie Vorsitzender der sozialistischen Fraktion (Sozialisten, Demokraten und Grüne) der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, forderte ebenfalls, Handel zu verringern und Hilfsgelder für das kasachische Justizwesen zu überprüfen und gegebenenfalls einzufrieren.

Allerdings zeugen solche Aktionen von realpolitischer Kurzsichtigkeit. Erstens sind solche Hilfsgelder von Nöten, um die von Schwabe geforderten Reformen in Kasachstan voranzubringen. Gelder zur Unterstützung einer offeneren und transparenteren Regierung (good governance), Justiz und wirtschaftlicher Erneuerung haben in der Vergangenheit zu sichtbaren Verbesserungen geführt, wie die OECD in einem 2017 erschienenen Bericht festhielt.

Zweitens würden Handelsrestriktionen und Gelder-Kürzungen ein fatales Signal nicht nur an Nur-Sultan, sondern die gesamte Region senden. Denn wenn die EU darauf hofft, dass die Staaten der Region sich in den Hexenkessel namens Afghanistan und seine Folgen begeben, dann muss Europa ebenfalls bereit sein, Institutionen und Politik an einem Zeitpunkt zu unterstützen, wenn diese durch die Migrationsströme, illegale Aktivitäten und eventuell auch Terrorismus unter besonderen Druck geraten.

Die kommenden Monate werden entscheidend dafür sein, wie Europa in Zukunft mit einem von den Taliban kontrollierten Afghanistan umgehen wird. Es ist bereits klar, dass die EU viel Unterstützung aus der Nachbarschaft Afghanistans benötigt, die bisher eine nicht ausreichend genutzte Quelle der Unterstützung war, insbesondere jetzt, da die USA nicht bereit zu sein scheinen, jemals wieder einen Fuß in das Land zu setzen. Die jüngsten Aufrufe aus Paris und Berlin, eine pragmatischere Außenpolitik zu verfolgen, sind daher zu begrüßen.

Auch wenn der Weg in die Zukunft nicht einfach sein wird, muss man hoffen, dass die nächste Regierung in Berlin die Situation mit mehr Sorgfalt, Kompetenz und Weitsicht angeht, als es die zahlreichen vorhergegangenen Merkel-Regierungen getan haben.

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