Ist der Kapitalismus wert gerettet zu werden?

Yanis Varoufakis, DiEM25 Debatte zum 50-jährigen Jubiläum der Wincott Foundation in London

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“Ist der Kapitalismus wert gerettet zu werden?”

Diese Frage diskutierten Martin Wolf, Ökonom und Chef-Kommentator der Financial Times und Yanis Varoufakis, Mitbegründer der Bewegung “Democracy in Europe Movement 2025” (DiEM25) und Parlamentsmitglied des griechischen Wahlflügels MeRA25, zum 50-jährigen Jubiläum der Wincott Foundation in London.

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Martin Wolf begann seine Argumentation für den liberalen Kapitalismus mit einem Marx-Zitat zur befreienden Kraft des Kapitalismus, woraufhin Varoufakis Adam Smith für eine Gegenargumentation bemühte. Davon abgesehen war die Rollenverteilung dann klar: Wolf führte die Abnahme absoluter Armut in der Welt, den rasanten Wachstum des chinesischen pro Kopf Einkommens nach Deng Xiaopings Reformen, das Versagen der ostdeutschen oder nordkoreanischen Planwirtschaft, und ähnlich bekannte Punkte an. Diese historischen Geschehnisse leugnete Varoufakis auch gar nicht, kritisierte jedoch die Prekarität jetziger Arbeitsverhältnisse, die große Zahl Abgehängter sowie die zunehmende Finanzialisierung - „die erstaunliche Transformation von Autoherstellern wie General Motors in Hedgefonds, die nebenbei auch ein paar Autos produzieren“ – und die „Bankrottokratie“, die Herrschaft durch bankrotte Banker, die sich nicht trotz sondern wegen ihrer riesigen Schulden Bail Outs durch den Steuerzahler erzwingen könnten.

Diesen Argumenten konnte sein Debattant folgen und mahnte daraufhin stärkere Regulierung des Bankenwesens und des internationalen Kapitals an. Des Weiteren sprach sich Wolf für größere Einschränkungen bei Fusionen sowie einen geringeren Schutz des geistigen Eigentums aus. Ansonsten setzt er weiterhin auf eine Deregulierung des Arbeitsmarktes und auf Privatisierungen, selbst für der Allgemeinheit dienenden Sektoren, wie der Energie-, Wasser- und dem Verkehrssektor. Den privaten Unternehmen vertraue er mehr als staatlichen Einrichtungen. Einzig sein Ruf nach mehr Einkommens-Umverteilung überraschte die Zuhörer und brach aus der gängigen neoliberalen Argumentation heraus! - Varoufakis bemerkte, dass der Kapitalismus aktuell in einer tiefen Krise stecken müsse, wenn selbst Reiche das Wort "Kapitalismus" in den Mund nehmen.

Wie Marx vorhersah, so Varoufakis, komme es derzeit zu einer zunehmenden Zweiteilung der Gesellschaft in diejenigen, die Aktien von Firmen besitzen aber dort nicht arbeiteten, und diejenigen, die arbeiteten ohne am Gewinn der Firmen beteiligt zu werden. Dabei bildeten die ersteren eine übermächtige Minderheit, die ungeeignet zum Herrschen über eine polarisierte Gesellschaft seien, weil sie der Mehrheit der Nicht-Aktienbesitzer noch nicht einmal eine gesicherte Existenz garantieren könnten. Die Mittelschicht sei vom Aussterben bedroht. Da Künstliche Intelligenz und Roboter es den Kapitalbesitzern jetzt und in den kommenden Jahrzehnten zunehmend ermöglichten, immer mehr Waren und Dienstleistungen von immer weniger Arbeitern produzieren zu lassen, werde die Anzahl der Arbeitslosen oder prekär Angestellten immer größer. Diese jedoch könnten sich kaum Waren und Dienstleistungen leisten, wodurch die Wirtschaft schließlich kollabiert. Wenn Journalisten Varoufakis heutzutage fragten, wer oder was die größte Bedrohung für den Kapitalismus sei, überrasche er sie deshalb mit seiner Antwort "Das Kapital!" (und nicht die Linken). Die Frage sei daher jetzt nicht mehr, ob der Kapitalismus rettenswert sei, sondern ob es überhaupt noch möglich sei, ihn zu retten.

Varoufakis scheint zu denken, dass zumindest auf lange Sicht die Antwort Nein ist. Kurzfristig sollten wir uns zwar der Werkzeuge des Kapitalismus bedienen, um Leiden zu lindern, aber gleichzeitig bereits auf eine postkapitalistische, freiheitliche Gesellschaft zuarbeiten, in welcher die Menschheit die Freiheit hat, zu philosophieren, während Roboter die Arbeit erledigen. Ein Element dieser neuartigen Gesellschaft könnte eine Bedingungslose Grunddividende (UBD) sein, ähnlich wie ein Bedingungsloses Grundeinkommen, aber aus Aktien finanziert, die in einen Staatsfonds (nach Vorbild des Alaska Permanent Fund) platziert werden. Ein weiteres Element wären Unternehmen, deren Entscheidungen nicht mehr von Aktionären sondern ausschließlich von den Menschen, die dort arbeiten, getroffen würden, und Staaten, die keine Einkommenssteuer oder Mehrwertsteuer sondern nur noch Grund- und Körperschaftssteuer einziehen.

Martin Wolf präsentierte keine großen Ideen; er betonte mehrmals, dass die Dinge eigentlich ganz gut gelaufen sind, dass es keinen Grund zur Sorge gäbe, und dass sich alles schlussendlich irgendwie geben würde – vielleicht durch mehr Regulierung, denn unsere Marktwirtschaft scheint immer zwischen Perioden leichterer und stärkerer Regulierung zu schwanken, bei Beibehaltung des Kapitalismus als Motor.

Auch in der Frage-Antwort-Runde blieb Wolf optimistisch bzw. einfallslos: er sähe die Demokratie trotz Brexit,Trump und dem zunehmenden Einfluss des Geldes nicht in Gefahr und während er ganz offen zugab, dass der Kapitalismus mit dem Problem Klimawandel nicht würde umgehen können, schien ihm dies, nachdem er dieses Problem dem Staat zugeschoben hatte, keine Sorge zu bereiten. Falls die Zuhörer konkrete Lösungsvorschläge von ihm erwartet hatten, wurden sie enttäuscht.

Yanis Varoufakis hingegen hatte nicht nur zur postkapitalistischen Gesellschaft allerhand Ideen. Beim Thema Klimawandel verteidigte er die Idee eines Green New Deal für Europa d.h. jährliche Investitionen in Höhe von mindestens 5% des europäischen BIP in die grüne Transformation aller Sektoren unserer Wirtschaft. Dadurch würde nicht nur der Klimawandel gestoppt, sondern auch viele gut bezahlte neue Arbeitsplätze geschaffen. Die europäische Investitionsbank soll, in Zusammenspiel mit der Europäischen Zentralbank und ggf. anderer Zentralbanken, grüne Anleihen zu diesem Zweck ausgeben. Alternativ könnte man endlich John Maynard Keynes Idee einer International Clearing Union umsetzen, wodurch grüne Investitionen weltweit steuerbar würden.

Wie der Philosoph Slavoj Zizek einmal sagte, ist es ein “bemerkenswertes Zeichen unserer Zeit, dass selbst die hellsten Köpfe lieber das Ende der Welt als das Ende des Kapitalismus vorbereiten wollen.” Die Mehrheit der konservativen Köpfe, die im Gebäude der Financial Times versammelt waren, sah jedenfalls – dem Veranstaltungstitel zum Trotz – die Fortführung des Kapitalismus als gegeben an. Und dennoch hatte sich die Stimmung am Ende der Veranstaltung gewandelt. Manche waren verstört davon, dass, als es um die drängenden Fragen unserer Zeit ging, das Establishment keine Ideen hatte, während der Marxist viele Denkanstöße liefern konnte.

Judith Meyer
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