Der transzendente Tiger

SPORT Nachdem der größte Rhetor uns mit seinem Abgang von der »Lodda-Mania« befreit hat, können wir nun auch wieder über eine andere Sportart schreiben, in ...

Nachdem der größte Rhetor uns mit seinem Abgang von der »Lodda-Mania« befreit hat, können wir nun auch wieder über eine andere Sportart schreiben, in der die Dramen und Tragödien um einiges grausamer als im Fußball sind. Mitte April steht ein Boxkampf ins Haus, der es hoffentlich in sich haben wird. Der »Tiger« Dariusz Michalczewski trifft im WM-Kampf »Die Abrechnung« auf »Rocky« Graciano Rocchigiani. Die Vorbereitungen laufen naturgemäß auf Höchsttouren, und der Sportverlag steigt mit der die Wahrheit des Kämpfers schonungslos enthüllenden Autobiografie Ich bin der Tiger mit in den Ring.

In den Körper des Boxers ist das eiserne Gesetz des Lebens geschrieben: Drei Viertel der Zeit tobt der Kampf, man muss auf der Hut sein, Angriffe vorbereiten oder abwehren, das restliche Viertel ist der Rekreation bestimmt. Drei Minuten Kampf - eine Minute Pause. Weil die Boxer diese Regel völlig verinnerlicht haben, können wir von den Heroen des Rings eine Bescheidenheit lernen, die im Aussterben begriffen zu sein scheint. Boxer sind keine brutalen Naturen, auch wenn sie zwischendurch ein Ohrläppchen abbeißen. Auf die Frage, warum er Boxer wurde, hat der irische Federgewichts-Champion Barry Mc Guigan einmal zu Protokoll gegeben: »Weil ich kein Dichter bin. Ich kann keine Geschichten erzählen ...«. Und der große Marvin Hagler hat sogar gemeint, wenn man seinen Kopf aufschneide, werde man darin einen großen Boxhandschuh finden: »Das ist alles, was ich bin. Es ist mein Leben.« Die meisten guten und erfahrenen Boxer sind freundliche und sanfte Menschen. Ihre Aggressivität ist auf den Schlagabtausch im Ring beschränkt, denn es ist ganz einfach unpraktisch, andauernd auszuteilen.

Wenn eine intelligente Leserin oder ein sensibler Leser meinen argumentativen »lucky punch« als allzu tollkühn abtut, hole ich mit Robert Musil zu einem letzten - theologischen - Kinnhaken aus. Im Mann ohne Eigenschaften erklärt Ulrich einer überraschten, mütterlichen Schönheit an seiner Seite, dass man Kampferlebnisse nicht nach dem Erfolg beurteilen dürfe: »Ihr Reiz liegt wirklich darin, daß man im kleinsten Zeitraum, mit einer im bürgerlichen Leben sonst nirgendwo vorkommenden Schnelligkeit und von kaum wahrnehmbaren Zeichen begleitet, so viele, verschiedene, kraftvolle und dennoch aufs genaueste einander zugeordnete Bewegungen ausführen muß, daß es ganz unmöglich wird, sie mit dem Bewußtsein zu beaufsichtigen, (...) dieses Erlebnis der fast völligen Entrückung oder Durchbrechung der bewußten Person sei im grunde verwandt mit verlorengegangenen Erlebnissen, die den Mystikern aller Religionen bekannt gewesen seien, und es sei sonach gewissermaßen ein zeitgenössischer Ersatz ewiger Bedürfnisse, und wenn auch ein schlechter, so immerhin einer; und das Boxen oder ähnliche Sportarten, die das in ein vernünftiges System bringen, seien als so eine Art von Theologie, wenn man auch nicht verlangen könne, daß das schon allgemein eingesehen werde.« Es kann sein, dass beim Boxen keine metaphysische Aura herrscht, aber es gibt im Leben nun mal Trivialitäten, die etwas stärker funkeln. Denn welche unermessliche Freiheit legt sich auf unseren Geist, wenn die Boxer sich im Clinch befinden und nicht mehr voneinander lassen, bis die Punktrichter ihr Urteil verkünden, oder ein bitteres Knock-out eine klare Sprache gesprochen hat. Ein Boxer steht nach einer Niederlage wieder auf, wischt sich mit den dicken Handschuhen über die Stirn und stellt sich dem nächsten Kampf. In dieser nüchternen Haltung können die Boxer unsere mentalen Weggefährten sein.

Der »Tiger« und vielleicht auch »Rocky« werden uns in wenigen Tagen zeigen, wie viel Metaphysik und Sehnsucht nach Transzendenz in ihren Fäusten stecken. Denn über das Boxen kann man sich gleichsam en passant den letzten Wahrheiten nähern. In ihrem wunderschönen Essay On Boxing hat Joyce Carol Oates geschrieben, dass Boxen ein tragisches Verständnis der Welt ermögliche: »Die Welt ist im Zorn - aus Haß und Hunger - entstanden und nicht nur durch Liebe: Davon handelt das Boxen unter anderem. Es ist so simpel, daß man es leicht übersieht.«

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