Am unteren Ende einer Treppe, die beinahe in den Orchestergraben führt, liegt Orfeo. Sein Körper ist eine schwere, unförmige Masse, der Geist ist wie benommen. Orfeo rührt sich lange gar nicht, so als würde er sich in Schlaf und Schmerz vergraben. Orfeo hat sein Gesicht vom Publikum abgewandt. Orfeo ist auf den Stufen von einem Schicksalsschlag wie ein Tier hingestreckt worden. Orfeo hat Euridice verloren. Er weiss nicht, wie er die nächsten Tage überstehen wird. Während Orfeo auf den Stufen liegt, fährt in einem Lift das lebensgroße Fotonegativ einer Frauengestalt empor. Diese wie auf eine Gedächtnisplatte gepresste Erinnerung ist das Abbild von Euridice, die in einer gespenstisch langsamen Levitation von Orfeo entrückt wird.
In l
In langen dunklen Gewändern geht der Chor wie in einer Trauerprozession vorüber. Der Chor zieht zunächst eine lange Gerade im oberen Raum der Bühne, der in Andrea Breths Operndebüt das Reich der Toten darstellt. Andrea Breth inszeniert eine verkehrte Welt. Die Wohnung von Orfeo und Euridice liegt in der Unterwelt. Sie ist der Ort, an dem sich ein zweites Mal der Tod der Liebe ereignen wird. Das egozentrische Beharren von Orfeo und Euridice führt zu Streitigkeiten und zur endgültigen Abkehr von der geliebten Person. Die Hölle ist für Andrea Breth der Alltag, in dem jeder nur seinen Interessen folgt.Der Chor singt von Euridice, und beim vertrauten Klang des Namens kommt Orfeo wie aus einer tiefen Benommenheit wieder zu sich. All sein Fühlen ist zunächst ein Tasten ins Leere. Orfeo sucht in Euridices blauer Handtasche nach vertrauten Gegenständen. Er nimmt ein weißes Tuch heraus, aus dem Rosenblätter fallen. Er holt einen Lippenstift hervor, und ein Tagebuch, auf dem Sonne, Mond und Sterne in goldener Farbe leuchten. Orfeo nimmt auch einen kleinen, runden Spiegel aus der Handtasche und erschrickt, als er sein eigenes Antlitz darin entdeckt. Doch diese Gegenstände stellen nicht eine Nähe zu Euridice her, sondern sind für Orfeo Fetisch-Objekte. Das Blau der Handtasche und des Buchumschlags ist ein Widerschein der Idee der romantischen Liebe: die Verschmelzung zweier Personen zu einer mystischen Einheit.Die Trauer um Euridice (Cynthia Haymon) meint jedoch nicht so sehr die geliebte Person, sondern vielmehr den Verlust der Muse. Orfeos Schwermütigkeit mutet wie eine maßlose narzisstische Kränkung an. Dem antiken Sänger wurde die Quelle seiner Inspiration genommen. Nun scheint der Strom seiner Gesänge zu versiegen. Orfeo (Michael Chance) ist auf sich selbst zurückgeworfen. Die Einsamkeit bekämpft er mit Rotwein, den er auch über eine Seite von Euridices Tagebuch schüttet. Der Arbeitstisch, eine durchsichtige Schräge mit dem abstrakten Muster einer Lyra (Ausstattung: Susanne Raschig, Bühnenbildmitarbeit: Thomas Gabriel), ist ein leerer und verwaister Ort.Der Gesang von Orfeo und Euridice kommt wie aus einer irrealen Ferne zu uns - aus einer Welt, in der der Zauber eines Märchens den Schrecken eines Alptraums nahe ist. Diese Ambivalenz ist wahrscheinlich am deutlichsten in der Mitte der Aufführung zu spüren. Auf den lichtdurchfluteten Stufen liegen in feine Plastikschleier gehüllt Menschen, die die Schwelle vom Leben zum Tod bereits passiert haben. Ihre Bewegungen sind sehr sparsam, so als wollten sie den Kokon ihres irdischen Daseins abstreifen. Orfeo gleitet mit einem Sonnensegel durch dieses Elysium und kann den Blick von der Pracht und Helligkeit der Erscheinungen nicht abwenden. Am Horizont, über der Linie der letzten Stufe tanzen in einer heiteren Schwerelosigkeit weitere Sonnensegel. Der Bann dieses Paradiesbildes klingt auch in Ivor Boltons Dirigat nach, wenn Orfeo durch sich öffnende Gräber und Schattengestalten zu den Furien hinabsteigt, um die aufrührerischen Geister mit seinem Gesang zu besänftigen.Im der Schlussszene wird Amor (ein Solist des Tölzer Knabenchors) zum Dirigenten. Amor setzt sich auf das untere Ende der Treppe und dirigiert den Dirigenten. Er schickt Orfeo, der nun mit Weste, Schuhen und Mantel bekleidet ist, über die Treppe hinauf an jenen Ort, an dem von Ferne ein Abglanz Elysiums (Licht: Alexander Koppelmann) leuchtete. Orfeo hat sich als Künstler wieder gefunden. Die ungelösten Fragen der Liebe scheinen ihn nicht mehr zu beschäftigen. In Orfeos Universum ist selbst die geliebteste Person nur ein Mittel zum Zweck. Der Kosmos der Schöpfung wird durch diesen egomanen Zugriff zerstört. Nicht einmal die Musik kann diesen Riss wieder heil machen.Die Vorstellung, dass der Weg eines Künstlers einem besonderem Schicksal unterliege, folgt einem etwas antiquierten Menschenbild, das Individuen in Auserwählte und "einfachere" Kreaturen unterteilt. Andrea Breth zeigt in traumatischer Klarheit, dass die Tragödie der Euridice daraus resultiert, dass Orfeo sich für einen besonderen Menschen hält. Für den Konflikt zwischen künstlerischer Evokation und der Liebe zu einem anderen Menschen scheint es nur ein Entweder-Oder zu geben. Aber ob diese alte Dichotomie, die dem antiken Sänger schmeichelt, heute noch ihre Gültigkeit hat, ist zu bezweifeln. Denn das Schicksal eines Künstlers und eines liebenden Menschen gleichen sich im Kern: Sie opfern sich.Orfeo steigt in der Schlussszene aus der Unterwelt hinauf, ohne sich umzudrehen. Euridice aber folgt nicht dem Sänger, sondern bleibt auf dem schrägen Schreibtisch sitzen. Euridice ist erstarrt, in ihrer Hand hält sie eine Lyra. Das Schicksal der Muse ist es zurückzubleiben, wenn der Sänger weiterziehen muss, um neuen Ideen zu folgen. Orfeo und Euridice sind in Andrea Breths Interpretation nicht durch die Liebe, sondern durch die Kunst miteinander verbunden. Das Elysium der Liebe ist zerbrochen, und die Beziehung zwischen Orfeo und Euridice durch eine lange Diagonale aufgerissen. Der Himmel erstrahlt nicht mehr in einem paradiesischen Licht, sondern ist von einem düsteren, blau-grauem Horizont bedeckt.