Auf einem gefährlichen Linkskurs sei die SPD. Mit Grünen und Linkspartei kämpfe sie um „fast dieselbe, zunehmend kleiner werdende“ Klientel. Weil sie eine Kaufprämie für Autos mit Verbrennungsmotor ablehne, verliere die Sozialdemokratie mit den ihr verbliebenen Facharbeitern auch noch ihre letzte Bastion. Mehrheiten links der Mitte würden deshalb zu einer „mission impossible“, argumentierte Albrecht von Lucke jüngst in einer klug zugespitzten Intervention (der Freitag 27/2020). Aber würden eine Pkw-Kaufprämie und die Konzentration auf Facharbeiter in der Autoindustrie der SPD wirklich aus ihrem Dilemma helfen? Ich hege Zweifel, aus mehreren Gründen.
Die SPD hat ihre frühere (Fach)Arbeiterbasis zu erheblichen Teilen längst verloren. In den Autoländern Baden-Württemberg und Bayern hat sie die Arbeiterschaft mehrheitlich nie erreicht – betrieblich rot, politisch tiefschwarz hat hier Tradition. Mit Gerhard Schröders Agenda-Politik und einer vermeintlichen Öffnung in die Mitte verlor die SPD dann etliche ihrer Anhänger aus der Arbeiterschaft.
Oft wählen Arbeiter gar nicht
So ist der Arbeiteranteil bei den Wahlberechtigten mit SPD-Präferenzen laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung seit der Jahrtausendwende von 44 Prozent auf 17 Prozent (2016) gesunken. Wenngleich der Arbeiteranteil auch in der gesamten Gesellschaft zurückgegangen ist, bleibt als Faktum, dass die SPD inzwischen in sämtlichen Arbeiterlagen unterdurchschnittlich repräsentiert ist. Sowohl bei Wählern mit einfachen Tätigkeiten als auch bei Gewerkschaftsmitgliedern liegen die Sozialdemokraten deutlich hinter AfD (36 Prozent Einfachtätigkeiten, 24 Prozent Gewerkschaftsanteil) und der Linkspartei (23 Prozent bei Einfachtätigkeiten, 27 bei Gewerkschaftsmitgliedern). Diese Entproletarisierung macht sich auch unter den SPD-Aktiven bemerkbar.
Ohne authentische Repräsentation neigt die Arbeiterschaft in weit überdurchschnittlichem Maß zur Wahlenthaltung. Wo, wie im Osten der Republik, feste Parteibindungen niemals entstanden sind, tendieren Arbeiter zu wechselnden politischen Präferenzen. Erhebliche Teile stimmen gegenwärtig für die AfD. In Brandenburg war die radikale Rechte bei der jüngsten Landtagswahl mit 44 Prozent der Stimmen stärkste Partei unter Arbeitern, in Thüringen erhielt sie in der betriebsaktiven Arbeiterschaft 39 Prozent und lag damit deutlich vor der politischen Konkurrenz. Im Autoland Baden-Württemberg hatten zuletzt 30 Prozent der Arbeiter für die AfD gestimmt, auch hier war die völkisch-nationalistische Rechte deutlich stärker als die SPD. Solche Daten zeigen: Die SPD ist vieles, nur keine (Fach)Arbeiterpartei. Das vorsichtige Abrücken von Hartz IV und Agenda-Politik reicht bisher nicht aus, um verlorenes Vertrauen einstiger Arbeiter-Stammwähler zurückzugewinnen.
Dass dies mit einer Kaufprämie für veraltete Pkw gelingen könnte, ist in höchstem Maße unwahrscheinlich. An der ökonomischen Wirksamkeit einer solchen Prämie zweifelten nicht nur Grüne, Linke und Sozialdemokraten, auch Wirtschaftsweise und Teile der Union winkten ab. In der arg krisengebeutelten Thüringer Zulieferindustrie votierte die Hälfte der Unternehmen in einer Umfrage gegen die Prämie. Selbst Betriebsräte und Gewerkschafter aus der Autobranche sprechen nicht mit einer Stimme. So hat sich der Kasseler VW-Betriebsratsvorsitzende Carsten Bätzold sehr klar positioniert: Ob der Verkauf von auf Halde produzierten Autos etwas für die Konjunktur bringe, sei völlig unklar. Außerdem hätten die Autokonzerne auf Zusagen für einen Eigenanteil bewusst verzichtet. Schon 2009 hatte die Kaufprämie sozial höchst selektiv gewirkt. Sie entfachte ein konjunkturelles Strohfeuer, das allenfalls geschützten Stammbelegschaften in den Exportindustrien zugutekam. Leiharbeitskräften, befristet Angestellten und Dienstleitungsbeschäftigten wie den Schlecker-Frauen bot sie keinen Schutz.
Damit kommen wir zu einem grundsätzlichen Einwand. Bei aller Scharfsinnigkeit begeht Albrecht von Lucke einen entscheidenden Fehler, wenn er suggeriert, die (Fach)Arbeiter seien eine sozial und politisch relativ homogene Gruppe. Nimmt man als Kriterium den Lohnbezug, gab es 2018 in Deutschland knapp sieben Millionen Arbeiter (71,6 Prozent männlich, 28,4 weiblich); das waren 16,6 Prozent der Erwerbstätigen. Sie finden sich überwiegend im produzierenden Gewerbe. Unter dieser relativ stabilen und noch immer wichtigen Minderheit der Lohnabhängigen sind die circa 800.000 Automobilbeschäftigten wiederum nur eine – wichtige, gut organisierte und deshalb einflussreiche – Minderheit. Wahrscheinlich wird diese Arbeiterfraktion künftig weiter schrumpfen, denn allein die Umstellung auf E-Mobilität könnte in der Branche bis zu 200.000 Arbeitsplätze kosten. Klar ist, dass eine Klientelpolitik, die Besitzstandswahrung von gut organisierten Stammbelegschaften zulasten von Klimazielen betreibt, unweigerlich zu Sympathieverlusten bei anderen Lohnabhängigen-Fraktionen führen wird. Arbeiter ist heute ein Status, hinter dem sich sehr unterschiedliche soziale Lagen und Arbeitssituationen verbergen. Von der Leiharbeitskraft im Dienstleistungsgewerbe über die Niedriglohnbezieherin im Online-Handel hin zur festangestellten Fachkraft in der Exportwirtschaft ordnen sich ihm Angehörige höchst unterschiedlicher Lohnabhängigengruppen zu. Es käme daher politischem Selbstmord gleich, würde sich die SPD exklusiv auf geschützte Beschäftigtengruppen in der Autoindustrie beziehen. Deren politische Vernachlässigung hat allerdings jenes Vakuum geschaffen, das die radikale Rechte zu nutzen weiß.
Dies vor Augen, gelangen wir zum eigentlichen Kernproblem. Ein Produktionsmodell, das darauf basiert, jährlich weltweit 70 Millionen neue Autos in den Markt zu schieben, ist weder ökologisch noch sozial zukunftstauglich. Die lange hinausgezögerte Umstellung auf E-Mobilität ändert daran für sich genommen wenig. Solange das Batterie-Recycling nicht in einer geschlossenen Kreislaufwirtschaft erfolgt und Strom mithilfe fossiler Energieträger gewonnen wird, ist E-Mobilität nicht ökologisch nachhaltig. Zur Erreichung der Klimaziele hat der Verkehrssektor bisher nichts beigetragen; es ist höchste Zeit, dass sich das ändert. Gerade vor dem Hintergrund dieses hohen Veränderungsdrucks sind Automobilarbeiter mit ihren Fachkenntnissen für eine Verkehrswende unentbehrlich. Das weiß man auch in den gewerkschaftlichen Führungsgruppen.
Industriepolitik für morgen
Aus all diesen Gründen führt die Klage über die verweigerte Kaufprämie am eigentlichen Kernproblem vorbei. Der SPD wie allen anderen Kräften links der Mitte fehlt, wie der Metall-Gewerkschafter Kai Burmeister feststellt, eine intelligente Industrie- und Strukturpolitik. Das rächt sich in einer Krise, die nicht nur lange andauern, sondern auch Wertschöpfungsketten, Produktions- und Konsumnormen dramatisch verändern wird. Repräsentanten der Auto- und Zulieferindustrie sprechen es offen aus: Mit Karosse und Motor wird sich in Zukunft kaum noch Geld verdienen lassen. Die Wertschöpfung erfolgt absehbar über digitale Technik, Sensorik, Software, also das hochtechnologische Innenleben eines Pkw. Die Technik allein macht jedoch keine Verkehrswende aus; politisch muss sie in nachhaltige Mobilitätssysteme eingebettet werden, die Bahn, kostengünstigen öffentlichen Personennahverkehr, Fahrrad und den Gang zu Fuß in optimaler Weise kombinieren.
Entwicklung und vor allem Realisierung solcher Mobilitätskonzepte benötigen Zeit. Deshalb sind politische Maßnahmen, die entsprechende Übergänge ermöglichen, unbedingt nötig. Für linke Parteien gibt es hier genug zu tun, denn dazu gehören etwa staatliche Beschäftigungs- und Statusgarantien für alle, die ihre Arbeitsplätze in den Karbonbranchen verlieren. Solche Garantien sind möglich, wenn beschäftigungsintensive Branchen mit sozialen Dienstleistungen bei Einkommen und in der gesellschaftlichen Anerkennungspyramide deutlich aufgewertet werden. Ohne verbindliche Tarifverträge geht das nicht.
Hält die Rezession lange an, kann nur radikale Arbeitszeitverkürzung Beschäftigung sichern. Nimmt die Rezession jenen dramatischen Verlauf, den OECD und IWF prognostizieren, werden alsbald noch ganz andere Maßnahmen nötig sein. Ohne Staatsbeteiligung an strategisch wichtigen Unternehmen wird die Krise dann nicht zu meistern sein. Staatsbeteiligungen sollten aber nicht dem Lufthansa-Beispiel folgen, sondern eine Umverteilung von Entscheidungsmacht anvisieren: Steuergelder werden nur gezahlt, wenn die Mitarbeiter am Unternehmen und dessen strategischen Entscheidungen beteiligt werden.
Alles schön, aber realitätsferne Utopie, würde Albrecht von Lucke wohl antworten. Trotz der gebotenen Skepsis des Verstandes hoffe ich, dass er sich irrt. Mit der von ihm favorisierten Arbeitsteilung – aufgeklärtes Bürgertum: grün, Facharbeiter: hellrot, Prekäre: knallrot mit Übergang zu braun – sind gesellschaftliche Mehrheiten jedenfalls nicht zu gewinnen. Diese Farbenlehre hat mit der Topografie moderner Klassengesellschaften wenig gemein. Im besten Falle wäre sie Klassen(fraktions)politik – aber für die falschen Klassen! SPD und politische Linke insgesamt müssen lernen, dass sich der alte industrielle Klassen- unwiderruflich in einen sozialökologischen Transformationskonflikt verwandelt hat. Selbst Kämpfe um Beschäftigung und Lohngerechtigkeit lassen sich ohne Verortung auch auf der Achse des ökologischen Gesellschaftskonflikts nicht mehr erfolgreich führen. Umgekehrt gilt aber, dass ökologische ohne soziale Nachhaltigkeit nicht zu haben ist. Umweltverbände, die großen argumentativen Aufwand betreiben, um die Abwrackprämie zu verhindern, ohne an die Sicherheitsinteressen von Beschäftigten auch nur einen Gedanken zu verschwenden, leisten ökologischen Nachhaltigkeitszielen einen Bärendienst.
Die Folge wechselseitiger Abschottungen, wie etwa in den Braunkohlerevieren zu beobachten, ist ein politisches Interregnum, das momentan dem konservativen Zentrum, im schlimmsten Falle aber der politischen Rechten nutzt. Dieses auf progressive Weise zu durchbrechen, erfordert tatsächlich eine kluge Arbeitsteilung zwischen Mitte-links-Parteien, Gewerkschaften und sozialen Bewegungen. Davon sind wir gegenwärtig ein gutes Stück entfernt. Pandemie und ökonomisch-ökologische Zangenkrise könnten jedoch zu raschem Lernen zwingen. Geschähe dies, müsste nicht einmal zwingend eintreten, was Albrecht von Lucke für unausweichlich hält – die „mission impossible“ eines Olaf Scholz.
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