Nach den großen Russland-Ausstellungen Anfang der neunziger Jahre scheint sich die Euphorie für die Kunst der einstigen Großmacht zu wiederholen. In der Ära von Glasnost und Perestroika entdeckte man in den Archiven eine Avantgardekunst, die viele Jahrzehnte hinter verschlossenen Türen schlummerte. Die 1991 vom New Yorker Guggenheim Museum organisierte Schau Die große Utopie kam der Entdeckung einer längst verschollen geglaubten Kunst gleich, die vom verheißungsvollen Aufbruch in eine neue Epoche kündete. Gleiches ereignete sich anlässlich der großartigen "Berlin-Moskau"-Schau, ausgerichtet 1995 vom Martin-Gropius-Bau.
Ein gutes Jahrzehnt später hat das Russland-Fieber nun auch Spanien erfasst. Insgesamt drei bedeutende Ausstellung
tende Ausstellungen sind derzeit in Barcelona, Bilbao und Madrid zu besichtigen. Die vereinigende Klammer ist der Ukrainer Kasimir Malewitsch, dem die katalanische Stiftung von Caixa Catalunya in ihrem Ausstellungsgebäude "La Pedrera" eine exquisite Schau widmet. Es überrascht, dass in der Kunstmetropole Barcelona eine so wichtige Ausstellung ausgerechnet in Antoni Gaudís kultischem Modernismo-Wohnhaus auf der Passeig de Gràcia stattfindet, einem Gebäude, das mit seinen kleinteiligen und dunklen Räumlichkeiten nicht gerade für größere Kunstpräsentationen prädestiniert ist. Und dennoch haben es die russischen und französischen Kuratoren vermocht, die beschränkten Raumverhältnisse bestmöglich zu nutzen.Sie hatten das Glück, auf Bestände in Sankt Petersburg und Werke aus Privatbesitz zurückgreifen zu können, die bislang nur selten oder gar nicht öffentlich gezeigt worden sind. Unter ihnen befinden sich Bilder, die das variationsreiche Spektrum von Malewitschs Schaffensperioden übersichtlich dokumentieren. Malèvitx - so der Titel der Ausstellung - dürfte nicht nur für Katalanen eine Entdeckung sein, denn neben den hinlänglich bekannten schwarzen Quadraten und den an der Renaissance geschulten Figuren sind auch die wenig bekannten "architectons", skulpturale Architekturobjekte, und Bilder aus Malewitschs Frühphase zu sehen, die, trotz seiner Vorliebe für die russische Volkskunst, von den modischen Stilen des Pariser fin de siècle zeugen.Das ehrwürdige Madrider Museum Thyssen-Bornemsza und die Stiftung Caja Madrid präsentieren die Arbeiten Malewitschs innerhalb einer Gesamtschau der russischen Avantgarde. Es handelt sich um eine konzentrierte Auswahl der facettenreichen Künstlergruppe, die ihr Frühlingserwachen um 1907 hatte und ihr abruptes Ende in der neuen stalinistischen Kulturpolitik 1935 fand. Das prachtvolle einstige Bankgebäude der Caja Madrid präsentiert die nachrevolutionäre Kunst, eine kollektivistische "Produktionskunst", die Alexander Rodtschenko als "ein Experiment für die Zukunft" verstand. Zurückgedrängt ist das traditionelle Tafelbild, für die Kunst gelten plötzlich neue Gesetze. Avantgardisten wie Alexander Rodtschenko verfassten Manifeste, wandten sich der Malerei, der Fotografie, der Bühnen- und Kostümgestaltung, der Illustration und der Raumkunst zu.Gleichzeitig verfolgt das Museum Thyssen-Bornemisza am Paseo del Prado die Ursprünge der neuen Kunst. Die Ausstellung fokussiert die figürliche Malerei von Michail Larionov und Natalia Gontscharova ebenso wie die schon an die Grenzen der Figürlichkeit heranreichenden Farbexplosionen Wassili Kandinkys. Der Wendung des Moskauer Malers hin zur vollständigen Abstraktion gehört zu den Schwerpunkten der Schau, neben Chagalls Erkundungen des magisch-chassidischen Kosmos seiner Heimatstadt Witebsk und Pavel Filonovs Rätselwelten voller flirrender Linien und absonderlicher Gestalten.Kurator Javier Arnaldo erinnert an den künstlerischen Aufbruch, zu dem Malewitsch und Tatlin bereits 1915 während der legendären Sankt Petersburger Ausstellung "0.10" aufriefen: "Malewitsch hängte die Bilder verschieden hoch und verteilte sie völlig ungewöhnlich an der Wand, ja sogar in der Ecke. Derart legen die Bilder ihre Eigenständigkeit ab und integrieren den umliegenden Raum. Tatlin und Malewitsch wollten damit die Grenzen zwischen Malerei, Raumkunst und Skulptur abschaffen."Malewitschs Schwarzes Quadrat und Tatlins Eckrelief - die schockierendsten Arbeiten der Sankt Petersburger Ausstellung - sind nun auch im Ausstellungsparcours des Thyssen-Bornemisza zu besichtigen. Natürlich ist das Provokative dieser Kunst verblasst, aber es bleibt nachvollziehbar, dass Tatlin das über Eck gehängte Relief zum Bestandteil des umgebenden Raumkörpers machte. Gleiches erreichte Rodtschenko mit den schwebenden geometrischen Gebilden und El Lissitzky mit den ausgreifenden Prounen.Wer von Madrid zum Museum Guggenheim in Bilbao reist, kann am ehesten die Provokation ermessen, die Malewitsch 1915 auslöste, als er in der Sankt Petersburger Ausstellung das "Schwarzes Quadrat" aufhängte. Er platzierte es keineswegs an einen beliebigen Ort, sondern an den traditionellen Platz der Ikone - "hoch oben, direkt unterm Dach, am heiligen Ort" - wie ein zeitgenössischer Kritiker die Blasphemie brandmarkte. In Frank Gehrys Titanblech-Massiv sind viele Ikonen von den berühmten klösterlichen Ikonostasen an einer quergestellten Wand überhalb der Augenhöhe angebracht.Beim Durchschreiten der Russia übertitelten Schau wird klar, welchen Sprung die Avantgardisten um 1915 machten, als sie Jahrhunderte einer byzantinisch geprägten Kunst und schließlich den an Landschaftsidyllen und historischen Genreszenen reichen Realismus des 19. Jahrhunderts mit einem Gewaltstreich hinter sich ließen. Es dürfte ihnen aber auch nicht schwer gefallen sein, denn neben den Wolgatreidlern und den grandiosen Porträts von Ilja Repin herrschte ein ziemlich blasser Akademismus vor. Gegen diese tradierten Formen setzte Kandinsky seine farblichen Synästhesien, Tatlin die Erkundung neuer Raumbezüge. Malewitsch blieb unter seinen Künstlerkollegen das schillernde Chamäleon: Als sie sich allseits unters politische Diktat der "Produktionskunst" stellten, malte er 1932 die Komplexe Vorahnung - eine bewegungslose Renaissancefigur mit ausgelöschten Gesichtszügen.Wer in Barcelona die intime Malewitsch-Ausstellung gesehen hat, sieht sich in Bilbao mit einem Gigantismus konfrontiert, der 800 Jahre russische Kunstentwicklung auf zwei Ausstellungsebenen zu komprimieren versucht. Endlich angelangt bei Ilya Kabakows The man who flew into space möchte man dem Kosmonauten am liebsten sofort ins Freie folgen.Malèvitx. La Pedrera, Barcelona, bis 25. Juni. Der Katalog kostet 25 EURVanguardias rusas. Museum Thyssen-Bornemisza und Fundación Caja Madrid,bis 14. Mai. Der Katalog kostet 45 EURRussia! Guggenheim Bilbao, bis 3. September. Der spanische Katalog kostet 55 EUR, der englische 40 EUR