Das Unbehagen am Mathematik-Abitur

Bildung Das Unbehagen am Mathematik-Abitur weist über die aktuelle Frage des diesjährigen Anforderungsniveaus hinaus.

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Die Proteste der diesjährigen AbiturientInnen können als Indiz für ein Unbehagen gesehen werden, das über die Abituraufgaben und auch über das Fach Mathematik hinaus auf die Grundlagen des deutschen Bildungssystems verweist. Ralf Pauli nennt in seinem Artikel vom 10.5.19 in der taz Beispiele für Häme, Spott und Unmut in den Reaktionen auf diese Proteste. Tatsächlich immunisieren sich die Diskutanten mit derartigen polemischen Erwiderungen gegenüber einer notwendigen inhaltlichen Auseinandersetzung.

Jedes Schulsystem will Fähigkeiten und Fertigkeiten lehren, die für die Funktion seiner Gesellschaft als notwendig betrachtet werden. Darüber hinaus gibt es in Deutschland einen besonders weit gefassten Begriff einer die Persönlichkeit durchdringenden und formenden Allgemeinbildung, die in der Schule vermittelt werden soll. So steht im Oberstufenlehrplan von Hessen: Das Unterrichtsfach Mathematik im Gymnasium leistet seinen Beitrag zur Allgemeinbildung und zur Studierfähigkeit. Es bereitet gleichermaßen auf den Eintritt in das Berufs- und Arbeitsleben vor

Wahrscheinlich hat der Mathematikunterricht der gymnasialen Oberstufe diese Ziele für die große Mehrheit der Jugendlichen kaum je erfüllt. Das ist keine Frage persönlicher Anekdötchen, keine Frage der Verbreiterung und angeblichen Verflachung des Abiturs und keine Frage des Bundeslands und das war auch schon vor Jahrzehnten so. Das hat auch nichts damit zu tun, dass viele SchülerInnen den Mathematikunterricht mit Erfolg und Vergnügen absolvieren. Ich kann es als alter Mathematiklehrer nämlich beurteilen.

Inhaltlich, als anwendbares Wissen, als Hilfe zum Verstehen der Umwelt (hessischer Lehrplan), bringt der Mathematikunterricht der Oberstufe fast nichts. Die überwiegende Mehrheit der AbsolventInnen wird nie wieder eine Funktion ableiten oder integrieren und nie die Schnittgerade zweier Ebenen im Raum bestimmen. Die kleine Minderheit, die das braucht, lernt im Studium oder der Berufsausbildung, wie man einen Computer dazu bringt, solche Berechnungen auszuführen.

Statistik könnte demgegenüber ein mathematisches Fachgebiet sein, das „im Leben“ anwendbar ist. Entsprechendes Wissen wäre gesellschaftlich dringend notwendig. Abschätzung der Wirksamkeit von Medikamenten, Aussagen zum Klimawandel und Behauptungen zur Qualität des bayerischen Abiturs, um nur winzige Bereiche zu nennen, basieren auf Statistik. Das Thema trifft in der Öffentlichkeit auf fundamentales Unverständnis, weshalb Manipulationen so einfach sind. Aber im Unterricht wird dieser Stoff zu Stochastik abstrahiert, von der (gesellschaftlichen) Anwendung abgelöst und von den meisten Schülern mit allem anderen Abgedrehten und Irrelevanten in die gleiche mentale Schublade gesteckt.

Mathematikunterricht als freies geistiges Spiel würde ich mit Überzeugung verteidigen, wenn er denn „allgemeinbildend“ wäre, wenn Mathematik als Geistesschulung (hessischer Lehrplan) unterrichtet würde. „Mathematik schult logisches Denken“, meint das Volk. Ja wenns denn so wäre, wäre die Welt ein wenig besser! Statt dessen wird vielmals schreiende Unlogik akzeptiert. Warum wird denn eigentlich nicht mathematische Aussagenlogik unterrichtet, wenn der Unterricht die Fähigkeit zu logischem Denken fördern soll?

Schlussfolgerung: Der real existierende Mathematikunterricht der Oberstufe vermittelt im Wesentlichen keine anwendbaren Qualifikationen und schult keineswegs in besonderem Maße so etwas wie rationales und logisches Denken. Dass die meisten Schüler den Stoff und die „Geistesschulung“ unmittelbar nach dem Abitur fast vollständig wieder vergessen, ist gut: es dient der geistigen Gesundheit.

Wozu dieser Mathematikunterricht, verpflichtend für alle?

Kommen wir zur dritten wesentlichen Aufgabe des Schulsystems, neben Kenntnis- und Bildungsvermittlung. Die Schule vermittelt Distinktion, erteilt Berechtigungen und reproduziert die soziale Schichtung. Wir wissen inzwischen (Statistik!), dass die Schule diese Aufgabe in Deutschland besonders gut erfüllt.

Was habe ich mir als Lehrer Mühe gegeben, alle meine SchülerInnen „mitzunehmen“ — und doch sind die Jugendlichen mit „internationaler Familiengeschichte“ oder die aus Familien mit sehr widrigen finanziellen Bedingungen (statistisch!) auf dem Weg zum Abi auf der Strecke geblieben.

Ich muss zu meiner großen Schande einräumen, dass mir während meines aktiven Diensts die einfache Ursache dieses Zustands nie bewusst wurde: Es ist die in Deutschland besonders ausgeprägte Überflutung der Schüler mit oft irrelevantem, unzusammenhängendem „Stoff“.

Betrachtet man nämlich „Bildung“ als Distinktionsmerkmal, ist ihr Inhalt fast egal, seien es nun Rechtschreibregeln, Lateinkenntnisse, Klavierspielen, abstruse Mathematikdetails. Wichtig ist, dass man etwas hat, mit dem man auf viele andere herabsehen kann. Das geht hervorragend mit „Bildungs“-Inhalten, die fern vom täglichen Leben oder auch sehr zeitaufwändig zu erwerben sind. Die altchinesische Gentry hatte ihre überlangen Fingernägel, um zu zeigen, dass sie nicht wirklich arbeiten mussten. Der deutsche Bildungsbürger kennt Balladen aus dem 19. Jahrhundert auswendig. Damit kann er zeigen, dass er als Jugendlicher Zeit und keine anderen Probleme hatte. Er musste jedenfalls nicht auf dem Acker oder im Gemüseladen helfen oder sich um den Asylantrag des Onkels ängstigen. Kein Behördenschreiben hat ihn jemals erschreckt und für Tage gelähmt.

Die deutsche Schule könnte „Bildung“ als Voraussetzung für Partizipation, für Empowerment begreifen. Die Schule ist im Innern der Gesellschaft die Institution, durch die sich der Souverän (das Volk) als politische Körperschaft regeneriert. (R. Redeker) Das müsste die Inhalte bestimmen. Dazu gehören selbstverständlich Literatur, Geschichte, Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften in einer geeigneten Auswahl.

So lange das „höhere“ Schulsystem aber vorrangig auf Distinktion durch „Bildung“ zielt, so lange produziert es abgedrehte Abituraufgaben und bleibt sozial überdurchschnittlich selektiv, so wie es sich das wohl situierte Bürgertum auch wünscht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus.Fueller

… wird noch nachgereicht

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