An der Kreuzung alter Handelswege

Mainstreaming. Diese große städtische Straßenkreuzung — Sie wissen schon: die mit Bus, Straßenbahn, Unterführung …

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Die Stadt entstand an der Kreuzung alter Handelswege. Bei wie vielen europäischen Städten steht dieser Satz wohl im Reiseführer? Ich stehe vor der Ampel an einer Kreuzung, in einer von zwei Geradeausspuren. Das hier ist nicht die Kreuzung der Handelswege. Die war in der Innenstadt, links von mir, auf dem „Markt“. Von rechts kommt zwar die alte Fernstraße, hier ist jedoch der innere Stadtring, der Verlauf der alten Befestigung. Vor mir ist die Stelle, an der die Handelsstraße auf die Stadtmauer traf. Deshalb heißt der Platz auch irgendwas mit „-Tor“.

Links liegt das Mittelalter, engere, wirre Straßen. Nach den Kriegszerstörungen wurden ein paar Schneisen geschlagen. Durch eine von ihnen fahren Tram und Bus zum Markt. Rechts das 19. Jahrhundert, Gründerzeit: Städtisches Gymnasium, Stadthalle. Etwas weiter draußen dann die Gewerbe- und Einfamilienhausgebiete ab dem mittleren 20. Jahrhundert. Hinter mir an der Ringstraße: der Park und das Theater, vor mir um die Biegung der Bahnhof.

Eine belebte Gegend. Viel Autoverkehr, LKWs, Lieferwagen. Fußgänger in alle Richtungen: Schüler, das Altersheim ist nahe, Lokale und Klubs nicht weit entfernt. Supermärkte und ein paar Parkplätze zur Entlastung der Innenstadt.

Die Kreuzung ist Ergebnis sorgfältiger Planung: Ausgefeilte Ampelschaltung, Abbiegespuren. Die Haltestellen des öffentlichen Verkehrs liegen teilweise zwischen den Richtungsfahrbahnen und sind unterirdisch zu erreichen. Breite Treppenstufen mit der typischen Kinderwagenspur: 20 cm Rampe links, 40 cm Treppe, 20 cm Rampe rechts, Geländer. Für mobilitätseingeschränkte Personen gibt es Fußgängerampeln, um ebenerdig über die Straße zu kommen. Grün nach Knopfdruck.

Sie kennen diese Kreuzung? Aber die meine ich nicht! Ich meine keine bestimmte Kreuzung, sondern die Kreuzung als Prinzip: Wege kreuzen sich. Ich meine auch keine bestimmte Autofahrerin im Wagen neben mir, keinen bestimmten Rentner, der da mit seinem Gehwagen vor der Fußgängerampel wartet. Ich meine uns alle als sehr unterschiedliche Mitglieder einer Gesellschaft, deren Wege sich beim Verfolgen ihrer individuellen Ziele in notwendiger Weise immer wieder kreuzen.

Und nun regnet es. Ich sitze im Trockenen, die Fahrerin neben mir ebenso. Rentner und Schulkinder werden nass. Höflichkeit, Mitgefühl, Solidarität sind ausgeschlossen: Unter keinen Umständen darf die Dame in der Rechtsabbiegerspur dem nassen Rentner ein Zeichen geben und ihn über die Straße lassen, dass er ins Trockene und Warme kommt. Das wäre das Vorspiel zu einem Desaster. Wir haben hier jeder eine Rolle. Das Verkehrsleitsystem schaltet die Ampel. Rücksichtnahme ist nur in den systemisch vorgesehenen Grenzen möglich. Beispielsweise könnte ich per Handzeichen die Fahrerin neben mir bitten, mich in ihre Spur zu lassen. Das kann sie dann tun oder nicht. Der Rentner muss warten. Doch das ist normal, für uns Autofahrer und für den Rentner. Es ruft kaum schlechtes Gewissen auf der einen oder Übellaunigkeit auf der anderen Seite hervor.

Trotz all der langen Vorgeschichte — die heutige Kreuzung hat ihre Grundstruktur auf den Zeichentischen der Nachkriegszeit erhalten, nach Vorplanungen unter den Nazis. Sie ist nach den damaligen Vorstellungen optimiert für uns Autofahrer. Wir waren, ausweislich des Autos, die Leistungsträger der Gesellschaft, und die wurde — jedenfalls zu Teilen — für uns eingerichtet. Da ist nichts Ungerechtes dabei. Und es ist nicht so, dass die Bedürfnisse der Anderen, der Fußgänger, Kinderwagenschieber, ursprünglich sogar der Handkarrenzieher, bei der Planung dieser Kreuzung ignoriert wurden: mit großem Aufwand wurde die Unterführung gebaut und es gibt die Fußgängerampeln. Nun gut: Für die „Grüne Welle“ auf dem Ring müssen die Anderen eben manchmal ein wenig länger warten.

Andere Kreuzungen sind noch wesentlich stärker für solche isolierte Individuen optimiert. Begegnungen sind dort noch seltener und standardisierter. Mit minimalem Sozialkontakt kann das freie Individuum über Autobahnkreuze und -zubringer zu Drive-in Restaurants, Apotheken, Kinos oder auf den Parkplatz der Großdiskothek fahren. Ein Traum einer Gesellschaft des vollständigen Individualismus. Aber an der Kreuzung zweier Autobahnen wird nie eine Stadt entstehen. Es ist ein Nicht-Ort.

There is no such thing like society at the motorway interchange.

Nun bleibt aber nichts wie es war im Lauf der Welt. Wir Autofahrer sehen ja selbst, dass wir die Stadt zunehmend verstopfen und verpesten. Das ging erst einmal an unser Geld, was nicht ganz so schlimm ist, denn neue, umweltfreundliche Autos sind zwar teuer, aber damit auch ein ein weiteres Mittel der sozialen Distinktion und die Parkgebühren sind nie so hoch, dass es uns die Fahrt in die Stadt vermiest.

Seit einiger Zeit aber müssen wir Kröten schlucken: Unsere Autos sind inzwischen viel breiter, aber die Stadtverwaltung zögert, Parkplätze und Einfahrten wie gewohnt entsprechend unserer Anforderungen anzupassen. Statt dessen wird nicht mehr nur immer wieder einmal über die Bedürfnisse der Anderen geredet — nein: tatsächlich wird die Kreuzung zunehmend organisatorisch und sogar baulich umgestaltet: Grünphasen für Fußgänger werden länger, Busse und Bahnen haben neuerdings eigene Spuren. Noch ärgerlicher sind die Fahrradwege, für die manche Abbiegespuren verschwunden sind. Es hat Proteste und empörte Leserbriefe in der Lokalpresse gegeben. Für uns steht weniger Verkehrsraum zur Verfügung als früher! Das schafft eine gewisse Grund-Genervtheit.

Und — es hört nicht auf! Über die Jahrzehnte wurde deutlich, dass für viele der Anderen die Kreuzung nicht optimal nutzbar ist. Ältere Personen benötigen mehrere Ampelphasen, um über den Platz zu kommen. Die Kinderwagenrampen können nur mit viel Geschick und Geduld benutzt werden. Eltern weisen ihre Kinder an, die Unterführung bei Dunkelheit zu meiden. Zudem ist die Kreuzung kein unschuldiger Ort. Auch die Klub-Besucherinnen gehen nachts nie in die „B-Ebene“, in der es hinten links zudem auch noch nach Urin riecht.

Und schließlich findet irgend jemand auch noch im Archiv heraus, dass diese Stelle vor der Motorisierung ein Platz mit Gemüsemarkt und Kaffeehaus unter Kastanien war. Ein Treffpunkt mit Leierkastenmann und Hüpfseil-springenden Kindern. Auch damals mit manchen Problemen: Die Polizei-Akten berichten von Taschendieben und anderen Gaunern. Eine Idylle war es nie.

Was soll nun aus unserer Gesellschaft werden?

Einige wenige von uns Autofahrern fordern ihren alten, unhinterfragten Vorrang zurück. Aber das ist eine wenn auch laute Minderheit, denn den meisten ist klar, dass es nicht wünschbar ist und dass auch aus objektiven Gründen nicht alle mit eigenen SUVs unterwegs sein können.

Also wissen wir sehr wohl, dass die Anderen nicht mehr nur von unseren Planern mit-berücksichtigt werden wollen, sondern dass sie selbst mit an den CAD-Bildschirmen sitzen wollen, dass sie Infrastruktur, Versorgungssysteme und Verkehrsflächen mitplanen werden. Die Kreuzung wird verändert werden. Es werden nicht nur Autos optimal aneinander vorbei gelenkt, es wird Flächen geben, an denen Fußgänger verweilen, Jugendliche sich aufhalten. Auch wir alt-eingesessenen Autofahrer sehen wohl, dass es bunter wird. Das kann schön sein, das wissen wir.

Aber beunruhigt sind wir trotzdem. Wir werden vor der Skatebahn stehen und uns unbehaglich fühlen, weil wir nicht immer verstehen, was da abgeht und weil daran denken, dass wir hier früher billig parken konnten. Unseren Interessen wird Raum in der Gesellschaft entzogen worden sein. Das wird uns nerven, selbst wenn wir wissen dass Teile unserer SUV-Lebensentwürfe längst objektiv nur noch für eine immer kleiner werdende Minderheit realisierbar sind.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus.Fueller

… wird noch nachgereicht

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