Mathematiklehrers Wehklage

Schule: Lasst die Schüler mit dieser Art von Mathematikunterricht in Ruhe!

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Die Schülerin hat sich redlich bemüht, anfänglich ihre schönste Schrift angelegt, zum gefälligen Unterstreichen der Ergebnisse in türkis stand sogar ein Lineal zur Verfügung, aber leider wird die Produktregel dann doch nur verkürzt angewendet und die Kurve ist nicht punkt-, sondern achsensymmetrisch, ein Irrtum, der den Rest der Aufgabe im Nichts zerrinnen lässt.

Dabei geht es um etwas: gelingt ihr der Sprung in die Qualifikationsphase, die letzten beiden Jahre vor dem Abitur? Und um die Klassenehre geht es auch noch, es ist eine "Vergleichsarbeit", schon wochenlang mit Angst besetzt, der eigene Lehrer mit Misstrauen beäugt, er ist vielleicht zu lasch; wird nicht zu wenig "geübt"? In der Nachbarklasse ist schon der Begriff Randextremum gefallen — kommt das etwa auch dran?

Panik setzt ein, die Schrift wabert, die Durchstreichungen werden fahriger, Lineal und Farbstift sind vergessen. Unsinnige Fragen, zu deren Bearbeitung perverser Weise trotzdem Nachdenken angebracht wäre, werden in Automatismen gezwängt, die wiederum scheitern an zunehmenden Verfahrensfehlern. Null durch zwei ergibt nun eins.

Sechs Seiten liegen später auf dem Tisch des Lehrers: Ein Dokument des ohnmächtigen Kampfs gegen die Erstickung im mathematischen Schleim.

Ein Jammer!


Kaum einer der 150 Schüler des Jahrgangs wird in seinem Leben jemals für irgend einen echten Anwendungsfall eine Extremwertaufgabe zu lösen haben, es sei denn, er wird Mathematiklehrer. Das wird kaum 10% des Jahrgangs betreffen. Warum wird allen Schülern zwei Jahre lang alleine in der Oberstufe diese Art von Mathematik aufgezwungen? Sie werden sogar alle im Abitur darüber geprüft.

Schulmathematik rechtfertigt sich aus der großen Tradition — der Schulmathematik (und aus einer Travestie der platonischen Ideenlehre).

Ach ja! Ach so! Mathematik schult die Logik. Aber wie soll hier "Logik" geschult werden? Wer benutzt außerhalb einer Kurvendiskussion die Bezeichnungen "notwendige" und "hinreichende Bedingung"? Merken überhaupt alle Mathematiklehrer, dass es sich hier logisch um eine Implikation handelt? Wird das jemals verallgemeinert und auf andere Aussagen bezogen? Die Schüler leisten jedenfalls die Verallgemeinerung nicht.

Was lernen die Schüler? Die heimlich vermittelten Qualifikationen sind:

  • Ich befolge Anweisungen, auch wenn die Zusammenhänge unverständlich sind.
  • Ich bearbeite Aufgaben, auch wenn sie erkennbar unsinnig sind.

Manche Schüler machen das gerne. Das ist ein Grund zur Sorge.

  • Entzieht der Mathematik den Hauptfach-Charakter ab Klasse 8!
  • Macht Mathematik wahlfrei in der Oberstufe! Oder wenigstens:
  • Unterrichtet andere mathematische Themenbereiche: echte Logik, mehr Statistik!
  • Entzieht der Mathematik Stunden! Unterrichtet statt dessen mehr Naturwissenschaften. Die Schüler werden mit der relativen Lage zweier Geraden im Raum wochenlang folgenlos beschäftigt, kennen aber weder vernünftig die Grundaussagen der Quantenphysik noch der Relativitätstheorie — Grundlagen eines zeitgemäßen Weltverständnisses.


Da liegt nun die bewertete Arbeit.

Die Schülerin ist eine gestandene Person. Sie verbrachte das letzte Schuljahr in Südamerika, ist weltgewandt und klug. Sie erkennt, wenn ihr jemand etwas einreden will, sie interessiert sich für Sprachen und Geschichte.

Die Schülerin wird die 6 Punkte-Niederlage freundlich entgegennehmen. Sie wird auch die Kommentare lesen und bei den mündlichen Fehlererläuterungen wird sie angemessen zerknirscht den Lehrer anschauen, hin und wieder nicken. Was in ihr vorgeht, wird sie sich besser nicht anmerken lassen.

Günstigenfalls wird sie — angepasst wie sie erzogen wurde — ihre Wut und ihre Hilflosigkeit allenfalls den Freundinnen gegenüber ausdrücken, vielleicht einen bissigen Kommentar in die Facebook-Gruppe der Klasse schreiben. Schlimmstenfalls wird die den Fehler bei sich suchen, irgend einer familiären Unfähigkeit, "Mathe" zu verstehen, ihrer Unlust, mehr Zeit mit "Üben" zu vergeuden.

Sie wird nicht ihre Eltern fragen, warum sie zulassen, dass Generationen von Schülern so viel Zeit mit seelenlosem, nutzlosem Unsinn verbringen müssen.

Also: Alles bleibt in Ordnung!


Nächstes Jahr kommt Integralrechnung auf sie zu.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Klaus.Fueller

… wird noch nachgereicht

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