8 Argumente für eine Minderheitsregierung

Demokratie Große Koalition oder Neuwahlen – das ist nicht die einzige Alternative. Leider wird die beste Variante, eine Minderheitsregierung, kaum diskutiert

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Der Umstand, dass Merkel eine Minderheitsregierung unbequem findet, weil sie mehr politisches Geschick, Anerkennung und Kompromissbereitschaft erfordert, spricht nicht gegen eine solche, sondern dafür
Der Umstand, dass Merkel eine Minderheitsregierung unbequem findet, weil sie mehr politisches Geschick, Anerkennung und Kompromissbereitschaft erfordert, spricht nicht gegen eine solche, sondern dafür

Foto: Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Argumente für eine Minderheitsregierung der CDU/CSU

  1. Das historische Argument: Die demokratietheoretische Legitimität, auf die sich die parlamentarische Demokratie in Deutschland wesentlich stützt, ist mit den Namen John Locke, Charles de Montesquieu, Jean Jacques Rousseau, Immanuel Kant und Thomas Paine verbunden. Alle diese Philosophen verstehen die, für eine repräsentative Demokratie unabdingbare, Gewaltenteilung zwischen Exekutive und Legislative in der Weise, dass das Parlament als Ganzes, resp. jeder einzelne Volksvertreter für sich, die Interessen aller Bürger zu vertreten hat - sei es gegenüber einem Monarchen, als Vertreter der Exekutive oder gegenüber einer ihrerseits vom Parlament gewählten Exekutive. Alle diese Philosophen warnen ausdrücklich vor Parteibildungen im Parlament, weil diese die Bestimmung des „Gemeinwohls“ erschwere, die tatsächlichen Interessenlagen der Bürger verzerre und parlamentarische Mehrheiten generieren könne, die tatsächlich nicht die Mehrheiten in der Bevölkerung widerspiegele. Eine, wie in Deutschland seit 1949 üblich, ausschließlich auf Parteimehrheiten gestützte Parlamentspolitik hielten alle für die Legitimität unseres parlamentarischen Systems relevanten historischen Staatsphilosophen definitiv für undemokratisch. Auch wenn die meisten modernen Staatsphilosophen Parteien in einer pluralistischen Demokratie für unabdingbar halten, kann der Verweis auf die Grundidee des Parlamentarismus doch geeignet sein, demokratietheoretische Zweifel an der Legitimität von Minderheitsregierungen zu zerstreuen: Sie sind nicht nur vollkommen kompatibel mit unserem parlamentarischen System, sondern sie beleben zudem dessen historische Wurzeln wieder, ohne die der Parlamentarismus verkümmern würde.
  2. Das verfassungsrechtliche Argument: Die Idee des unabhängigen, auch und gerade von Parteien unabhängigen Abgeordneten findet ihren Niederschlag zentral in Art. 38 der deutschen Verfassung: „Die Abgeordneten […] sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen“. Parteien hingegen wirken, laut Grundgesetz, nur „bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ (Art. 21 GG.) Die Tatsache eines de facto Monopols der Parteien bei der politischen Willensbildung und eines de facto permanenten Fraktionszwangs widersprechen Geist wie Buchstaben der deutschen Verfassung. Dieser vermeintlichen Normativität des Faktischen muss die Faktizität des Normativen entgegengehalten werden. Das Grundgesetz legt auch in den Verfassungsgrundsätzen, die in Art. 20 die staatliche Ordnung in nuce bestimmen, eine gewaltenteilige, parlamentarische und keinesfalls eine Parteienherrschaft fest. Parteien werden in den 146 Artikeln des Grundgesetzes nur ein einziges Mal, in Art. 21. erwähnt.
  3. Das komparative Argument: Erfolgreiche und stabile Minderheitsregierungen gab und gibt es in vielen Ländern und zwar nicht nur in Skandinavien, wo sie die Regel darstellen. Auch in Frankreich, Italien oder Spanien werden Minderheitsregierungen als normal betrachtet, in den USA spielen Parteien und Fraktionszwang, obwohl ein Zwei-Parteien-System, eine deutlich weniger zentrale Rolle als in Deutschland, wechselnde Mehrheiten sind dort nicht unüblich, die Abgeordneten verstehen sich eher als Vertreter ihres Wahlkreises denn als Parteisoldaten. In der Weimarer Republik hingegen waren Parteibindungen und Parteidisziplin extrem ausgeprägt, das damalige Viel-Parteien-System scheiterte auch daran, dass die Abgeordneten nicht frei entscheiden konnten; die häufigen Minderheitsregierungen scheiterten an der mangelnden Unabhängigkeit der Abgeordneten von ihren Parteien und an der extremen ideologischen Bandbreite der Parteien, die mit der heutigen Situation völlig unvergleichbar ist. Der Verweis auf „Weimarer Verhältnisse“ als vermeintliches Argument gegen eine Minderheitsregierung trägt also nicht.
  4. Das Stabilitäts-Argument: Gegen eine Minderheitsregierung wird angeführt, a.) sie sei zu instabil angesichts der Herausforderungen an die Politik, b.) sie schwäche die Rolle Deutschlands in Europa und der Welt und c.) sie sei eine Gefahr im Falle einer schweren nationalen Krise.

Zu a.) Tatsächlich könnte das, was an wichtigen Gesetzen ansteht - Einwanderungsgesetz, Integrationsgesetz, Bildungsinvestitionen, Reformen der Sozialversicherungen, Rentenreform, Arbeitsmarktpolitik, Klimaschutzpolitik, Energiepolitik u.U. auch Steuerreformen, Digitalisierung und Terrorabwehr - ebenso gut mit wechselnden parlamentarischen Mehrheiten umgesetzt werden, ja, viele Gesetzesvorhaben ließen sich vermutlich leichter, rascher und konsequenter durchführen, da sich dafür jeweils andere Mehrheiten finden werden. Die Parteien wären stärker gezwungen, auf Mehrheiten in der Bevölkerung zu achten, Gesetzesprojekte, die nur Wenigen zugutekommen, hätten es schwerer, eine parlamentarische Mehrheit zu finden. Der Lobbyismus würde in seinem Einfluss auf die Parteien geschwächt, die parlamentarische, demokratische Willensbildung würde gestärkt. Die regierende CDU/CSU könnte sich ebenso Mehrheiten für ihre Anliegen suchen wie es alle anderen Parteien im Parlament ebenfalls versuchen können. Und da insgesamt die Parteien der Mitte - von der SPD bis zur FDP - zusammen eine überragende parlamentarische Mehrheit gegen AfD und DIE LINKE bilden, sind die Schnittmengen gewiss groß genug, um immer wieder neue Mehrheiten für jene Projekte zu finden, die innerhalb des Systems anstehen.

Zu b.) Die Stärke Deutschlands in der Welt rührt von seiner demografischen und ökonomischen Größe, und nicht von den Mehrheitsverhältnissen im Parlament. In der EU ist die Rolle Deutschlands ohnehin in den Stimmenzahlen in EU-Parlament und Kommission festgelegt, und was das persönliche Verhandlungsgeschick der Kanzlerin anbelangt, wird sich daran auch nichts ändern, wenn sie alleine mit ihrer Partei die Regierung bildet. Im Gegenteil wird sie freier agieren können, wenn sie auf keinen festen Koalitionspartner Rücksicht zu nehmen braucht. Alle weitergehenden Sorgen um die „Stärke“ Deutschlands in der Welt und der EU sind entweder hegemonial oder paternalistisch begründet, und damit illegitim. Eine selbstbewusstere Außenpolitik, etwa gegenüber der Türkei oder den USA, hängt gewiss nicht an parlamentarischen Mehrheiten, könnte im Gegenteil durch ein gestärktes Parlament eher beflügelt werden.

Zu c.) Jede Partei, die es wagen würde, im Fall einer schweren nationalen Krise, etwa einem großen Terrorangriff, einer Naturkatastrophe oder einer AKW-Havarie, der Regierung ihre Unterstützung zu versagen, würde politischen Selbstmord begehen. Im Gegenteil zeigen weltweit alle Erfahrungen, dass schwere nationale Krisen Parteigrenzen bedeutungslos machen und für parlamentarische Geschlossenheit sorgen.

5. Das demokratische Argument: Minderheitsregierungen stärken die parlamentarische Demokratie. Sie werten den einzelnen Abgeordneten und die parlamentarische Debatte auf, sie zwingen den Abgeordneten, sich wirklich eine eigene Meinung zu bilden, und nicht nur nach den Vorgaben der Fraktionsspitze abzustimmen, sie beleben den politischen Diskurs in der Öffentlichkeit, wirken gegen die „Politikverdrossenheit“ und gegen das Misstrauen, das den Parlamentariern entgegengebracht wird. Wechselnde parlamentarische Mehrheiten zwingen zum Diskurs über Parteigrenzen hinweg, beflügeln den Austausch zwischen Parlamentariern und Bürgern, sorgen für eine Politisierung der Öffentlichkeit, rücken die Belange von Minderheiten in den Fokus und stärken damit letztlich die Stabilität des gesellschaftlichen Systems insgesamt. Gerade in einer Situation gesellschaftlicher Spaltung, in der normativer Zusammenhalt und wertmäßiger Sinnhorizont sich verflüssigen, kann ein gestärktes und selbstbewusstes Parlament am besten als Spiegel der Gesellschaft fungieren und neue Gemeinsamkeiten stiften.

6. Das parteipolitische Argument: Es liegt an der SPD, eine Minderheitsregierung der CDU/CSU zu ermöglichen. Sie müsste nur zu ihrem Wort stehen, in die Opposition zu gehen, eine Ankündigung, die vollkommen plausibel und nachvollziehbar begründet und im Parteivorstand mit einstimmiger Mehrheit beschlossen worden war. Wenn die FDP selbstbewusst genug ist, keine Koalition unter Führung der CDU/CSU einzugehen, weil ihr die Gemeinsamkeiten nicht ausreichten, dann ist es verwunderlich, dass die SPD in Erwägung zieht, mehr Gemeinsamkeiten mit der CDU/CSU aufzuweisen, als die FDP.

Eine Minderheitsregierung der CDU/CSU verhinderte, dass die SPD genau dies unter Beweis stellte, und damit vollends in der Bedeutungslosigkeit verschwände - abgesehen vom Vertrauensverlust durch den Wortbruch und von weiterer Demontagepolitik der CDU/CSU, die sie im Fall einer Koalition mit der CDU/CSU fürchten müsste.

7. Das Argument der Staatsräson: Eine Verhinderung einer Minderheitsregierung der CDU/CSU durch einer Koalition der SPD mit der CDU/CSU, die sich auf die „Staatsräson“ beruft, wahlweise unterstützt durch den Hinweis auf einen Appell des Bundespräsidenten, bzw. die Notwendigkeit, eine Neuwahl oder eine „Staatskrise“ zu verhindern, ist vollkommen abwegig. „Staatsräson“, hier verstanden als Pflicht, Staatsinteressen über Parteiinteressen zu stellen, ist im Fall einer möglichen Minderheitsregierung keinesfalls gefordert. Von einer Staatskrise kann keine Rede sein, die geschäftsführende Regierung arbeitet effizient und geräuschlos, Neuwahlen mögen lästig und unwägbar sein, sind aber in jedem Fall ein Feiertag der Demokratie, und dass eine Minderheitsregierung sehr sinnvoll sein kann, wurde oben gezeigt. Zudem käme keine andere Partei auf die Idee, einen massiven Wortbruch in einer solchen Situation mit „Staatsräson“ begründen zu wollen. Wohlwollend mag man das Argument als Ausfluss des sozialdemokratischen historischen Traumas begreifen, nie mehr als „Vaterlandsverräter“ gebrandmarkt zu werden - dann ist es schlicht traurig und töricht, realistischer scheint es ein vorgeschobenes Argument konservativer Sozialdemokraten, die im Grunde Merkels Politik für richtig halten und eine Koalition mit ihr favorisieren. Sie bedienen sich des Arguments der „Staatsräson“, um ihre wahren Intentionen zu verbergen. Sollte eine Minderheitsregierung verhindert werden, weil konservative Sozialdemokraten sie torpedieren, wäre das ein Bärendienst an der Demokratie und der gesellschaftlichen Entwicklung. Es wäre zugleich das Gegenteil einer Politik, die sich wirklich an der „Staatsräson“ orientiert.

8. Das Argument der Anerkennung des Faktischen: Tatsächlich ist die Situation einer möglichen Minderheitsregierung der CDU/CSU entstanden durch die politischen Fehler dieser Parteien in der letzten Legislaturperiode, konkret durch die verfehlte Flüchtlingspolitik Merkels 2015 und 2016 und die Kritik dieser Politik durch die CSU. Beide haben die AfD gestärkt und damit zu den Mehrheitsverhältnissen im 19. Deutschen Bundestag geführt, die eine Regierungsbildung erschweren. Daher ist es Ausdruck der Anerkennung des Faktischen, dass CDU/CSU, die beide die schlechtesten Wahlergebnisse seit Gründung der Republik erzielten, nun auch die Folgen dieser verfehlten Politik alleine tragen. Der angemessene Ausdruck dieser Lage ist eine Minderheitsregierung. Sie kann für die CDU/CSU, die in dieser Regierung alle Ministerien stellen und alle Exekutivmacht alleine ausüben, auch zu einem großen Erfolg führen - falls sie klug regieren. Der Umstand aber, dass Merkel eine Minderheitsregierung unbequem findet, weil sie mehr politisches Geschick, Anerkennung und Kompromissbereitschaft erfordert, spricht nicht gegen eine solche, sondern eher dafür.

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