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Bericht aus der Karibik Alle reden über das Virus in Deutschland. Aber was geschieht eigentlich außerhalb? Von einer deutschen Familie, die in der Karibik festsitzt - seit sieben Wochen.

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Bericht aus der Karibik

Stellen Sie sich vor: Sie sitzen mit ihrer Familie eingesperrt von Staats wegen in ihrer kleinen Wohnung, die sie nur tagsüber zum Einkaufen von Lebensmitteln und Medikamenten verlassen dürfen. Der Staat begründet diese Ungeheuerlichkeit mit einer grassierenden Seuche vor deren Verbreitung zu schützen jetzt oberste Bürgerpflicht sei. Bei Zuwiderhandlungen drohen drakonische Strafen. Sie reißen sich zusammen, trösten sich damit, dass Freiheit auch Einsicht in Notwendigkeit heißen kann, dass es allen anderen nicht besser ergeht und Solidarität jetzt die Zärtlichkeit im Volk ersetzen muss.

Dann sehen Sie mit Entsetzen, dass sich der öffentliche Platz vor Ihrer Wohnung mit immer mehr Menschen füllt, viele keuchen und husten und wirken sehr krank. Bald zerstreuen sie sich in das umliegende Land, aber der Platz füllt sich immer wieder von Neuem. Sie rufen bei der Polizei an und fragen besorgt und empört, was hier geschieht. Ihnen wird beschieden: „Diese Menschen kommen aus Gebieten, in denen die Seuche noch schlimmer wütet und fühlen sich hier sicherer. Wir können sie nicht aufhalten, denn die öffentlichen Plätze, auf denen sie sich bewegen, unterstehen nicht unserer Kontrolle. Dafür ist die Zentralregierung zuständig, und die besteht auf der Öffentlichkeit der Plätze.“

Sie sind verzweifelt, weil Sie sich verraten und verhöhnt fühlen von jenem Staat, der Sie zu schützen vorgibt, aber der Gefahr preisgibt, der Ihre Menschenrechte außer Kraft setzt, weil der Lebensschutz es erfordere, aber zugleich Ihr Leben auf’s Spiel setzt.

Dieses kafkaesk anmutende Horror-Szenario ist leider keine Fiktion, vielmehr erleben wir – zwei Brüder und ihre Frauen, zwischen 63 und 73 Jahre alt, in einer Ferienwohnung in Puerto Rico, einer zu den USA gehörenden Inseln, der kleinsten der großen Antillen, festsitzend, zur Zeit eine entsprechende Situation. Seit Mitte März herrscht hier eine der weltweit strengsten Ausgangssperren der Welt, am 3. Mai soll geprüft werden, ob die Menschen wieder auf die Straße und zum Arbeiten dürfen, bis dahin ist die Insel im Wachkoma. Das arme Land ist wenig gerüstet, das Gesundheitssystem marode, selbst elementare Schutzmittel für die Bevölkerung fehlen. Und weil man fürchtete, dem Virus hilflos ausgeliefert zu sein, griff man zu drastischen Ausgangssperren.

Zusätzlich ist die Regierung verunsichert, weil sie im Blindflug agieren muss. Es gibt kaum Tests im Land, gerade mal ca. 2000 pro Million Einwohner, mit großem Abstand die geringste Testquote aller US-Staaten. Verzweifelt versuchte die Regierung, Tests in Deutschland zu kaufen, eine Million für 19 Mio. Dollar. Für den 1. April waren diese zugesagt. Da verbot der US-Präsident den „Deal“, bestand auf Bestellungen in den USA, für den doppelten Preis, zu einem deutlich späteren Liefertermin. Die Hälfte der Tests muss zudem an die US-Regierung zurückgegeben werden, zur anderweitigen Verwendung. So agieren Kolonialherren in ihren Kolonien.

Die Bevölkerung hält sich sehr diszipliniert und tapfer an all die Zumutungen. Eigentlich sollten alle Zahlen längst nach unten weisen: Als das Wegsperren der Bevölkerung begann, gab es 5 Infizierte und null Tote im Land. Aber inzwischen – Stand: 19. 04. - gibt es über 1200 Infizierte und 62 Tote. (Ernsthaft zählen aber nur die Totenzahlen). Wie das?

Seit Beginn der Krise weigert sich die Regierung Trump, die Flughäfen der Insel für Flüge aus den USA zu sperren. Tatsächlich kommen täglich ca. 20 Flüge aus New York, Florida, Chicago und anderen besonders betroffenen Gebieten in Puerto Rico an. Viele der Ankommenden sind infiziert, vorgestern zum Beispiel wurden 38 Personen positiv getestet – aber dann nicht etwa in staatliche Quarantäne geschickt, sondern mit der Auflage, zuhause zu bleiben, entlassen. Seit Mitte März kamen auf diese Weise ca. 54.000 Personen aus den USA, oft Exil-Puertoricaner oder US-Amerikaner mit Ferien-Domizil in Puerto Rico auf die Insel. Die Krankheit auf der Insel ist eine importierte, wie fast überall, aber hier wird der Import konsequent fortgesetzt. Die Einheimischen (und die verbleibenden wenigen Touristen, die nicht nach Hause können, weil es keine Flüge in die Heimat gibt, denn diese „rechnen“ sich nicht für die Fluggesellschaften) bleiben in Geiselhaft einer zynischen Regierung. Die Gouverneurin, Wanda Vázquez Garced, eine Parteigängerin des US-Präsidenten, stellt die Loyalität gegenüber der Zentralregierung über ihre Schutz-pflichten für das eigene Volk.

Was ist an all dem so empörend?

Wenn einer Bevölkerung massive Aussetzungen elementarer Freiheitsrechte zugemutet werden, und wenn diese Bevölkerung sich in bewundernswerter Weise aus Staatsräson, aus vorbildlicher Solidarität mit den Schwachen, aus Pflichtbewusstsein allen Auflagen beugt – dann entsteht in dieser Bevölkerung, gleichsam zum Ausgleich, um das moralische Selbstwertgefühl wieder in Balance zu bringen, ein gesteigertes Gerechtigkeitsbedürfnis, eine erhöhte Sensibilität für das Gute und das Richtige, eine starke Verletzlichkeit durch Fehlverhalten. Wie ein leidgeprüfter Hund aus dem Tierheim, der zuschnappt, wenn man nur die Hand erhebt. Und dann ist die Regierung, die diese Zumutungen fordert, doppelt verpflichtet, alles zu tun, um sie möglichst rasch wieder aufzuheben, alles zu unterlassen, was die Bevölkerung über Gebühr leiden lässt.

Aber die republikanische puertoricanische Regierung tut genau das Gegenteil. Und diese zweite Ungeheuerlichkeit ist deshalb doppelt empörend.

Noch ein Wort zur deutschen Regierung: Auch sie hat Schutzpflichten gegenüber den Deutschen im Ausland und das Auswärtige Amt bekam viel Lob zu hören für seine „Rückholaktion“. Aber diese darf nicht vorzeitig beendet werden. Zumal die Fluggesellschaften von sich aus nur fliegen, wenn es wirtschaftlich lukrativ ist. Das darf aber nicht das Kriterium sein, um die letzten „Gestrandeten“ heim zu holen.

Klaus Goergen z. Z. San Jose, Quebradillas, Puerto Rico.

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