Krieg in der Ukraine

Ursachen und Folgen Der Pulverdampf und die Flüchtlingstrecks verstellen im Moment den Blick auf die grundsätzlicheren Fragen nach den Kriegsursachen und den Kriegsfolgen. Aber diese Fragen werden uns einholen. Hier werden bereits erste Antworten gesucht.

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ZUM KRIEG IN DER UKRAINE

Kriegsursachen und Kriegsfolgen hängen zusammen. Nicht nur für die ethische Beurteilung des Kriegs, sondern ebenso für die Diskussion einer künftigen Nachkriegsordnung scheint mir die Beantwortung einer Frage essentiell: Wäre dieser Krieg vermeidbar gewesen? Drei mögliche Antworten auf diese Frage will ich diskutieren: 1. Nein, der Krieg war unvermeidbar, weil Putin ihn unbedingt wollte, um seine Machtphantasie eines großrussischen, vor-sowjetischen Reichs zu realisieren. 2. Ja, wenn die Ukraine rechtzeitig Mitglied der NATO geworden wäre, weil dann die NATO-Abschreckung gewirkt hätte; 3. Ja, wenn der Westen sich in den vergangenen Jahren weniger hartleibig gegenüber den russischen Sicherheitsforderungen gezeigt hätte. Die 2. und 3. Antwort widersprechen sich unmittelbar, die 1. macht die Überlegungen der 3. Antwort hinfällig.

Die erste Antwort entspricht dem jüngsten Narrativ der konservativen Kräfte des Westens und seit langem bereits jenem der meisten osteuropäischen, insbesondere polnischen und der baltischen politischen Eliten. Sie nährt sich aktuell aus den einschlägigen Schriften und Reden Putins, insbesondere aus der Rede vom 22. 02. 2022, in der er seine großrussische Phantasie unverblümt darstellt, sie speist sich aber auch aus den Erfahrungen mit früheren Kriegen, in Tschetschenien, Moldawien, Georgien, die alle dem Erhalt des russischen Reichs dienten, sowie den russischen Cyberattacken und Killerkommandos in NATO-Staaten, die den aggressiven Charakter des Putin-Regimes seit Langem belegen. In der Perspektive der ersten Antwort war der Westen viel zu lange blauäugig gegenüber den wahren Absichten Putins – und nach dieser Sichtweise ist auch die Schuldfrage rasch geklärt: Die Schuld an diesem Krieg trägt ausschließlich Putin, der ihn heimtückisch und von langer Hand plante.

Gegen diese erste Antwort auf die Frage nach der Vermeidbarkeit des Kriegs sprechen einige Indizien: Die zahlreichen politischen Verträge und militärischen Abkommen zwischen westlichen Staaten und Russland in der ersten Dekade von Putins Herrschaft, die weitgehende Zugeständnisse Russlands beinhalten sowie ein deutliches Zugehen auf den Westen – bis hin zum Angebot einer NATO-Mitgliedschaft - sind kaum erklärbar, wenn Putin von Beginn seiner Herrschaft an auf kriegerische Expansion und Errichtung eines großrussischen Reichs abgezielt hätte. Auch spricht nichts dafür, dass Putins west-orientiertes Reden und Handeln in den ersten Jahren seiner Herrschaft nicht ernst gemeint gewesen sein könnte. Dem widerspricht nicht, dass in den allerletzten Jahren und Monaten eine Position bei ihm gereift ist, die einen Krieg plante. Ab wann genau er diesen Angriff auf die Ukraine fest vorhatte, weiß niemand außer ihm selbst.

Die erste Antwort sollte also präzisiert werden: Der Krieg war erst unvermeidbar, als Putin alle Hoffnungen auf eine Einigung mit dem Westen und mit der Ukraine aufgegeben hatte.

Die zweite Antwort wird vor allem von der Ukraine selbst, aber auch von einigen östlichen NATO-Mitgliedern und seit Jahren schon von den USA bevorzugt. Der Angriff auf die Ukraine wird diese Perspektive weiter beflügeln, selbst der Linke Gregor Gysi glaubt jetzt daran. Für die Plausibilität der Antwort spricht das bisherige Funktionieren der Abschreckungsdrohung der NATO. Ein NATO-Mitglied wurde bisher noch nie militärisch angegriffen, der Preis wäre zu hoch.

Allerdings übergeht die zweite Antwort den Umstand, dass eine NATO-Mitgliedschaft nicht über Nacht vollzogen wird, und Putin Zeit genug gehabt hätte, auf die Ankündigung der Mitgliedschaft sofort zu reagieren. Ja, es ist sehr wahrscheinlich, dass der Versuch einer Aufnahme der Ukraine in die NATO den Krieg gegen das Land nur vorgezogen hätte. Selbst im Westen wurde diese Gefahr offensichtlich für so hoch erachtet, dass die Ukraine stets vertröstet wurde. Die zweite Antwort ist also unredlich, sie versucht, die Schuld an dem Krieg auch den zögerlichen Ländern des Westens anzurechnen, die einen NATO-Beitritt der Ukraine bislang blockierten.

Obwohl sie also unsinnig ist, entfaltet die Teilschuld-Zuweisung dennoch ihre Wirkung: Die Waffenlieferungen an die Ukraine, auch von Deutschland, können auch als Reue, als Schuldeingeständnis gesehen werden, der Ukraine nicht früher eine NATO-Mitgliedschaft angeboten zu haben. Sie sind allerdings kontraproduktiv, da sie den Krieg nur verlängern und weiter barbarisieren; alle militärischen Fachleute gehen davon aus, dass Putin den Krieg gewinnen wird und unbedingt gewinnen will – um jeden Preis. Falls letzteres zutrifft, sind Waffenlieferungen auch brandgefährlich im Hinblick auf eine Ausdehnung des Kriegs über die Ukraine hinaus, weil die Gefahr besteht, dass einzelne NATO-Staaten nicht militärisch ruhig halten werden, wenn entweder eine Niederlage der russischen Armee sich doch andeuten oder wenn der Krieg zu massenhaften zivilen Opfern in den bombardierten Großstädten führen wird. Je rascher der Krieg beendet wird, umso besser. Diese postheroische Botschaft ist allerdings einer heroischen Ukraine schwer zu vermitteln.

Die dritte Antwort entspricht jener linken Position, die stets einen Perspektivwechsel einforderte und auf die legitimen Sicherheitsinteressen Russlands verwies, die chronisch missachtet wurden. Frustration und Vertrauensverlust über gebrochene Versprechen hinsichtlich der Osterweiterung der NATO, Einkreisungsangst, Sorge vor westlicher Aggression angesichts der langen Geschichte ihrer Kriege, Interventionen, Infiltrationen und counter-insurgency-Aktionen rund um den Globus, Wissen darum, dass die USA eine Verbrüderung Westeuropas mit Russland aus machtpolitischem Kalkül unbedingt vermeiden wollen – das sind die Stichworte, die plausibel machen, dass es durchaus eine Chance gegeben hätte, den Krieg zu vermeiden – und dass der Westen mit seinem unnachgiebigen Verhalten nicht völlig unschuldig ist an dieser Eskalation. Warum sollte also Putin den Versicherungen des Westens trauen, die NATO verfolge keinerlei aggressive Absichten gegenüber Russland? Die letzte Chance einer Vermeidung des Kriegs hätte in dieser Sichtweise wohl darin bestanden, die ukrainische Führung zur Einlösung ihrer Verpflichtungen aus den Minsker-Abkommen zu drängen, insbesondere zur Anerkennung eines Autonomie-Status der Ost-Provinzen. Aber das wurde viele Jahre lang sträflich versäumt.

Insbesondere für Deutschland gilt: Die Sicherheit Israels gehört – mit gutem Grund, angesichts der Millionen Morde von Deutschen an Juden – zur deutschen Staaträson. Aber die Deutschen haben auch in einem barbarischen Kolonialkrieg 27 Millionen Russen ermordet – wäre es da nicht angezeigt gewesen, auch die Sicherheit Russlands zur deutschen Staatsräson zu erklären?

Die Idee, dass der Krieg vermeidbar gewesen wäre bei einem rechtzeitigen Eingehen des Westens auf die Sicherheitsinteressen Russlands, ist, wie gesagt, nur plausibel, wenn Putin diesen Krieg nicht ganz unabhängig von tatsächlichen oder vermeintlichen Bedrohungsängsten aus imperialistischen Gründen, aus Großmachtsansprüchen, längst zu führen geplant hatte. Dass dies schon zu Beginn seiner Amtszeit der Fall war, dafür spricht allerdings wenig. Es gab also zumindest ein Fenster der Gelegenheiten, sich mit Russland dauerhaft und ernsthaft zu versöhnen. Dieses Fenster wurde aber nicht geöffnet – und insofern ist der Westen, insbesondere die USA mitschuldig an diesem Krieg. Die überragende Schuld bleibt allerdings bei Putin allein, denn selbst wenn Russland von westlich orientierten Staaten umzingelt wäre, ist das kein Grund, ein souveränes Land anzugreifen.

Die richtige Diagnose der Kriegsursachen führt zu den richtigen Folgen des Kriegs. Stimmt die erste Antwort, kann die Konsequenz des Westens und der NATO nur sein, sich durch erhöhte Wehrhaftigkeit gegen weitere Aggressionsgelüste Putins zu schützen, die neutralen Staaten Skandinaviens, vielleicht auch Österreich zum NATO-Beitritt zu ermuntern, die „Frontstaaten“ im Baltikum und Balkan militärisch zu ertüchtigen und so die Abschreckung vor weiteren Angriffen zu erhöhen. Eine solche Militarisierungsstrategie ergibt allerdings erst dann Sinn, wenn Putin den Ukrainekrieg nicht nur siegreich beendet, sondern auch politisch überlebt. Schon ersteres ist nicht selbstverständlich und Zweiteres äußerst zweifelhaft.

Stimmt hingegen die dritte Antwort, so sollte, auch wenn es angesichts des aktuellen Kriegs schwer fällt, ein neuer, ernsthafter Versuch unternommen werden, mit Russland über Sicherheitsgarantien ins Gespräch zu kommen. Das setzte allerdings im Westen die Einsicht voraus, nicht völlig unschuldig an der Eskalation zu sein, die zu diesem Krieg führte. Und von Seiten der USA sollte endlich anerkannt werden, dass Westeuropa und Russland sich verbünden können, ohne damit die USA zu bedrohen.

Zum Schluss noch zwei positive Ausblicke: Wir erleben gerade, wie eine militärische Großmacht in einer globalisierten Welt in die Knie gezwungen werden kann, ohne sie militärisch zu attackieren. Die wirtschaftlichen Sanktionen werden Russland so hart treffen, dass es m. E. für Putin keine Chance gibt, diese Krise politisch zu überleben. Und wenn sich Russland von ihm und seinem autoritären System befreit haben wird, sich dann wieder als demokratisches Land gen Westen öffnet, mit Europa verbündet und vereint – dann wird womöglich ein Kontinent „Von Lissabon bis Wladiwostok“, von dem Putin geträumt hatte, Wahrheit werden – ganz ohne ihn und ohne den Segen der USA.

Klaus Goergen, 04. 03. 22

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