Raum für Skepsis und Hoffnung

Gastbeitrag Auf einer „Zwei-Staaten-Lösung“ für Israel und Palästina beharren? Wichtiger ist, dass der sich abzeichnende eine Staat jüdischen wie arabischen Interessen gerecht wird
Kann es gemeinsam gehen?
Kann es gemeinsam gehen?

Foto: Chris McGrath/Getty Images

Der vielseitige Einspruch gegen Netanjahus Vorhaben, das Staatsgebiet Israels auf ca. 30 % des Westjordangebiets, nämlich das Jordantals und israelische Siedlungsgebiete, auszudehnen, ist verankert im Insistieren auf einer Zwei-Staaten-Lösung des israelisch-palästinensischen Verhältnisses. Diese werde durch das Vorhaben behindert und verhindert. In ihr aber liege die einzige Aussicht auf Frieden. Wenngleich dieser weltweite, auch jüdische, Protest gegen Annexionen das gegenwärtige Vorhaben Netanjahus behindern oder verhindern und der Zwei-Staaten-Lösung den Schein von Aktualität verleihen mag, sollten die Bedenken nicht vergessen werden, die sich gegen das Nebeneinander eines jüdischen und eines arabischen Staates in Palästina richten. Es sollte nicht vergessen oder verleugnet werden, dass die Aussicht auf zwei Staaten längst verschwunden sein mag – vielleicht von jeher eine Fata Morgana war.

Die Errichtung zweier Staaten steht seit dem Bericht der britischen Peel-Kommission von 1937 auf der Agenda, erhielt autoritative Geltung mit der UN-Resolution 181 von 1947. Sie gewann an Aktualität nach dem Sechs-Tage-Krieg von 1967 und war dominierender Programmpunkt in den Osloer Friedensverhandlungen der Neunziger Jahre. Danach verflüchtigte sie sich in politische Rhetorik. Tony Judts Artikel „Israel. The Alternative“ (New York Review of Books, 23. Oktober 2003) und Virginia Tilleys The One-State Solution (2005) können als publizistische Verabschiedung der Zwei-Staaten-Lösung gelten. Micha Brumlik fordert 2012 „eine illusionslose Aufgabe des hohl gewordenen Mantras der ,Zweistaatenlösung‘“ (TAZ, 25. 8. 12). Der israelische Journalist Gideon Levy nennt (Haaretz, 26. 1. 2020) den Friedensplan Trumps den „letzten Nagel im Sarg des wandelnden Leichnams namens Zwei-Staaten Lösung“. Ian Lustick (Paradigm Lost: From Two-State Solution to One-State-Reality, 2019) bezeichnet die Zwei-Staaten-Lösung als Gespenst, welches die Tatsache verschleiere, dass längst ein Staat, Israel, ganz Palästina umfasse und in unterschiedlicher Weise Gaza, Galiläa, Negev, Jerusalem und Tel Aviv regiere. Ein separater Palästinserstaat sei das sezessionistische Wunschbild palästinensischen Unabhängigkeitsstrebens, niemals Zielsetzung des zionistischen Programms.

Prof. Dr. Klaus Hofmann ist Professor i. R. für Anglistik und Englische Literatur an der J. W. Goethe-Universität in Frankfurt a.M. Jüngere Publikationen sind „Demokratie und Herrschaftsverleugnung, oder: Plädoyer, die Demokratie zu schätzen, ohne ihre Herrschaftsstrukturen zu verkennen“ und „Das Märchen von Kanaan. Eine literarische Utopie für Israel und Palästina

Es ist in Erinnerung zu rufen, dass ein Staat Israel, der das gesamte britische Mandatsgebiet Palästina umfasst, von jeher das Ziel des Zionismus war. Der Revisionismus des Ze'ev Jabotinsky zur britischen Mandatszeit insistierte auf diesem Anspruch, wenn er die „Revision“ der 1923 erfolgten Errichtung eines separaten Emirats Transjordanien verlangte. Darüber hinaus fordern expansionistische Projekte ein ,Greater Israel‘ unterschiedlicher Größe zwischen Nil und Euphrat. Der Labour-Zionismus Ben Gurions begnügte sich nach der Staatsgründung 1948 mit dem von der UN zugeteilten Staatsgebiet, vergrößert durch den Zugewinn im Unabhängigkeitskrieg. Doch diese Beschränkung ist als eine nur vorläufige zu verstehen. Sah doch Ben Gurion schon im Vorschlag der Peel-Kommission von 1937 den „größtmöglichen Schub für eine schrittweise Eroberung des gesamten Palästinas“. Mit der Eroberung und Besetzung der bis dahin jordanischen Westbank im Sechstagekrieg 1967 rückte dieses Ziel – freilich beschnitten um das ostjordanische Königreich – in Reichweite. In den Siebziger Jahren formierte sich das revisionistische Lager als Likud-Allianz, die sich 1988 zur Likudpartei zusammenschloss. Unter Benjamin Netanjahu, dessen Vater Sekretär Ze'ev Jabotinskys war, steht die Likud-Partei für die Wahrung und Erfüllung revisionistischer Forderungen, die sich in der Siedlungspolitik auf der Westbank durchsetzen. Die Annexionsabsicht Netanjahus steht somit in genuin zionistischer Tradition, kann von ihm als „ein weiteres ruhmreiches Kapitel in der Geschichte des Zionismus“ verteidigt werden.

Sharing statt dividing

Pionier dieser Politik ist die Siedlerbewegung, die als Gusch Emunim („Block der Gläubigen“) nach dem Yom Kippur-Krieg 1973, erst recht nach der Regierungsübernahme Menachem Begins 1977 auf den Plan trat. Sie hat mittlerweile einen Palästinenserstaat topographisch unmöglich werden lassen. 2004 spricht Daniel Gavron („The Other Side of Despair. Jews and Arabs in the Promised Land“) von den Siedlern als „Post-Zionisten“, die ihre Loyalität zu Eretz Yisrael über die Loyalität zum gegenwärtigen Staat Israel stellen. Yehouda Shenhav macht in Beyond the Two-State Solution. A Jewish Political Essay (2012, hebräisches Original 2010; der Titel wird aufgegriffen von Omri Boehm, A Future for Israel. Beyond the Two-State Solution (2020)) aufmerksam auf die Siedler, die – etwa in ihrer Monatsschrift Nekuda – gegen die Befestigung Israels durch einen Grenzzaun protestieren und dem separaten jüdischen Staat absagen. Sie wehren sich gegen die sich „links“ oder „liberal“ Gebenden, die gegen Okkupation und Siedlungsbau jenseits der Grenze polemisieren und davon absehen, dass der Staat Israel selbst durch Okkupation und Besiedlung entstand. Statt das Land zu teilen, ist man bereit, sich das Land zu teilen – Sharing statt dividing. Shenhav spricht von „demokratischen Siedlern, die den Raum zwischen Fluss und Meer zu öffnen suchen, um dort, in unterschiedlichen Maßen der Gleichheit und Gerechtigkeit, eine binationale Gesellschaft zu errichten“. Im Sommer 2010 weist der Aufsehen erregende Artikel von Noam Sheizaf, „Endgame. Rightist visions of a single state“ (Haaretz, 15. Juli 2010), auf diese Tendenzen hin. Führende Persönlichkeiten aus Likud und der Siedlerbewegung, darunter der vormalige Minister Moshe Arens, der heutige Staatspräsident Reuven Rivlin, die heutige Ministerin für Diaspora-Angelegenheiten Tzipi Hotovely, der 2014 verstorbene Uri Elizur, Mitbegründer von Gush Emunim und zeitweise Berater Netanjahus, und Rabbi Hanan Porat, Initiator von Gush Emunim, kommen darin zu Wort – als Befürworter einer Annexion palästinensischer Gebiete. Am 6. Februar 2017 versicherte Staatspräsident Rivlin auf einer Siedlerkonferenz, er unterstütze die Annexion der Westbank. Das Zentralkomitee des Likud stimmte am 31.12. 2017 für eine Resolution, in der die Ausweitung der „Souveränität Israels auf Judäa und Samaria“ gefordert wird. Netanjahus Annexionspläne folgen dieser Tendenz. Trumps Bestehen auf einem rudimentären Palästinenserstaat steht ihr im Wege.

Das Hinwirken auf den einen Staat nimmt Impulse älterer Initiativen auf. Eine dieser Initiativen ist markiert durch die Namen Martin Buber und Judah Magnes und die 1942 gegründete Vereinigung Ichud („Union“). Dieser Kreis opponierte und argumentierte bis zur letzten Minute gegen die Teilung Palästinas und die Gründung eines jüdischen Separatstaates. Das Bestreben, niedergelegt in Bubers Schriften, war beseelt von einem „Kulturzionismus“, der Palästina mit einem „hebräischen Humanismus“ durchdringen sollte, ohne auf politische, gar militärische Machtentfaltung zu bauen. Buber verwarf den „Kleinzionismus“, der sich auf die politische Souveränität versteife. Ihm ging es darum, den Staat gegenüber der bi-nationalen Zusammensetzung seiner Bürgerschaft neutral zu halten.

Lesen Sie mehr zum Thema in Ausgabe 27/20 des Freitag

Die prekäre Herausforderung einer Ein-Staat-Lösung betrifft die Wahrung eines jüdischen Staates, wie er seit Herzls Romantitel dem Zionismus eingeschrieben ist. Diesem Ziel kommt eine Zwei-Staaten-Lösung sicherer entgegen, die die nicht-jüdische Bevölkerung in der Minderheit halten kann. Der eine Staat eines ,Greater Israel‘ hat unter Umständen mit einer Mehrheit nicht-jüdischer Einwohner zu rechnen. Caroline Glick, Mitglied der 2018 gegründeten Partei „Die Neue Rechte“, schätzt in ihrem Buch The Israeli Solution: A One-State Plan for Peace in the Middle East (2014) die jüdische Dominanz als politisch und demographisch möglich ein. Zu befürchten ist, dass sich ein solches Israel als jüdischer Nationalstaat zu behaupten sucht, indem es die Rechte und Lebensbedingungen arabischer Staatsbürger einschränkt. Apartheidstrukturen und Reaktionen darauf sind zu gewärtigen: Zwei Völker mit ungleichen Rechten, regiert von einem Staat. Bezeichnungen wie „ethnische Demokratie“ (Sammy Smooha), „Ethnokratie“ (Oren Yiftachel), „Judäokratie“ oder „exklusive Inklusion“ (Ariella Azoulay und Adi Ophir) benennen die Erwartungen und Befürchtungen. Extremforderungen einer ethnischen Säuberung tendieren wiederum zu einer Zwei-Staaten-Lösung, die die Abschiebung der arabischen Palästinenser in einen eigenen Staat ermöglicht. Auch regt sich immer wieder der Vorschlag, Jordanien die Rolle des Palästinserstaates aufzudrängen.

Gleiche Rechte für alle Bewohner eines Staates

Die Alternative zu solchen Absichten ist die Einbürgerung der arabischen Bevölkerung. Uri Elizur urteilte 2009: „Die schlimmste Lösung ist offenbar die richtige: ein binationaler Staat, volle Annexion, volle Staatsbürgerschaft.“ Mit dieser „schlimmsten Lösung“ wird die Aufnahme von etwa vier Millionen arabischer Bürger in Kauf genommen, was den Anteil der nicht-jüdischen Bevölkerung Israels von etwa 20 auf 30 bis 40 Prozent erhöht. Shaqued Morag, Geschäftsführerin von Peace Now, sieht darin eine „Vernichtung Israels als eines jüdischen und demokratischen Staats“. Der Drohung einer „Vernichtung des jüdischen Staates“ steht die Hoffnung und Gewissheit entgegen, dass sich das jüdische Moment in einer binationalen Demokratie bewähren und behaupten könne und werde. Omri Boehm geht in A Future for Israel der Geschichte dieses Konzepts bis hin zu Theodor Herzl nach. Schon Ze‘ev Jabotinsky stand zu einer Verfassung eines zukünftigen zionistischen Staates, welche den Arabern volle und gleiche bürgerliche und politische Rechte garantiert. 2012 kam zutage, dass im August 1967 Menachem Begin in einer Kabinettssitzung die Erteilung von Bürgerrecht und Wahlrecht an die Bewohner der im Sechs-Tage-Krieg neugewonnenen Gebiete erwog. 1977 aktualisiert ein 21-Punkte Plan diese Absicht, die von der Knesset ins Gesetz aufgenommen wurde. Das in Noam Sheizafs „Endgame“-Artikel präsentierte Eintreten für ein ,Greater Israel‘ geht einher mit der Befürwortung voller Staatsbürgerschaft der arabischen Bewohner. Staatspräsident Rivlin verband 2010 seine Befürwortung einer Westbank-Annexion mit der Bedingung der Erteilung voller Bürgerrechte an die arabischen Bewohner. 2017 erneuerte er diese Forderung. Es tut sich die Aussicht auf eine Zukunft eines Staates auf, der sich neutral zu der ethnischen, kulturellen, religiösen Identität seiner Bürger verhält. Die nationale Vereinnahmung des Staates könnte der bürgerlichen Gleichberechtigung aller Bewohner weichen. Man mag es als List der Vernunft, ein cunning of history (Ian Lustick), sehen, dass gerade die politische Rechte Israels Avantgarde einer Entwicklung ist, die diese Möglichkeit in den Blick rückt. Ian Lustick hält die Diskussion um die Alternativen – „Zwei-Staaten-Lösung“ und „Ein-Staat-Lösung“ – für abwegig, da längst und ausschließlich der eine Staat Israel das Land zwischen Mittelmeer und Jordan umfasse. Statt eine „Ein-Staat-Lösung“ anzustreben, gelte es, die schon bestehende „Ein-Staat-Realität“ anzuerkennen und nach den Prinzipien politischer Gerechtigkeit zu gestalten. Der eine Staat müsse sich als die politische Arena erweisen, in welcher Araber und Juden gleiche Bürgerrechte erkämpfen, verteidigen und ausüben. Omri Boehm plädiert in gleichem Sinne für eine föderale, bi-nationale Republik, entwirft die Vision einer bi-nationalen „Republik Haifa“, wenngleich er die Errichtung eines palästinensischen Staates für einen nötigen ersten Schritt dahin hält.

Auf palästinensischer Seite wird, bei aller Rhetorik des Insistierens auf einen eigenen Staat, mit einer Aufnahme der arabischen Bewohner in ein ,Greater Israel‘ gerechnet und dessen Entwicklung zu einem ethnisch neutralen Staatswesen erhofft. Der palästinensische Präsident Abbas rückte am 20. September 2017 vor der UN-Vollversammlung den binationalen Staat mit „gleichen Rechten für alle Bewohner des historischen Palästina vom Fluss bis zum Meer“ als Alternative zur Zwei-Staaten-Lösung in den Blick. Saeb Erekat, offiziell auf die Forderung nach einem separaten Palästinenserstaat festgelegt, reagiert im Dezember 2017 auf Trumps Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels: „Die Zwei-Staaten-Lösung ist erledigt. Nun gilt es, den Kampf auf einen Staat mit gleichen Rechten für jeden Bewohner des historischen Palästina, vom Fluss bis zum Meer, auszurichten“ (Haaretz, 7. Dezember, 2017). Sari Nusseibeh, Ex-Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem, wagt in Ein Staat für Palästina? Plädoyer für eine Zivilgesellschaft in Nahost (2011, deutsch 2012) das „Gedankenexperiment“, dass arabische Bürger eines Gesamtstaats zunächst auf das aktive und passive Wahlrecht verzichten, eine Interimslösung, die sich als „natürlicher Schritt hin zu dem einen, demokratischen Staat“ erweisen soll. In einem solchen Staat, im Land eines freien Volkes, könne „ein Israeli ein ebenso patriotischer Palästinenser sein wie ein arabischer Palästinenser“. Ghada Karmi, Palästinenserin, die in England an der Universität Exeter lehrt, verweist jüngst in der London Review of Books („Constantly Dangled, Endlessly Receding: Palestinian Rights,“ LRB, 5. Dezember 2019) auf Erekats Sinneswandel und wiederholt ihren eigenen Aufruf im Guardian vom 20. September 2012: „Palestinians need a one-state solution.“

Angesichts dieser Sachlage und ihres Herkommens ist das Beschwören einer „Zwei-Staaten-Lösung“ abwegig. Vielmehr fordert die in den Annexionsplänen sich abzeichnende Entwicklung auf einen umfassenden Staat hin eine Aufmerksamkeit, die sowohl der Skepsis wie der Hoffnung Raum gewährt. Hat sich doch ein solcher Staat gegen jüdische wie arabische Interessen durchzusetzen, um jüdischen wie arabischen Interessen gerecht zu werden.

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