Aufklärung oder Home-Story

Medientagebuch Der Krieg der Bilder heute und damals oder: Als das Erinnern noch einen Schock bewirken konnte

Fünf Tage lang geht es hin und her: Darstellung und Gegendarstellung, Anklage und Dementi. Im Fernsehen: Bilder von aufgebahrten Leichen, trauernden Überlebenden, einem zertrümmerten Zelt. Die Bilder stammen von einem Kamerateam der amerikanischen Agentur AP-NT. Die Reporter sagen: 40 Tote. Die Toten sind Zivilisten. Ein General sagt: Nein, nein, das waren keine Zivilisten. Der Angriff galt Terroristen, illegalen Waffenlagern, wir mussten eine gefährliche Bande von Verschwörern vernichten. Wir haben Beweise. So geht es weiter, fünf Tage lang. Die Reporter sagen: Die Bomben haben keine Verschwörerbande, sondern eine Hochzeitsgesellschaft vernichtet. Unter den Toten sind viele Frauen und Kinder. Der General sagt: Nein, nein, die Reporter müssen sich irren, Kinder sind nicht gestorben, Frauen vielleicht. Wir haben Beweise.

Am fünften Tag wird von einem Video berichtet; das Fernsehen zeigt Standbilder aus dem Video, und die Kommentatoren sagen: Dies ist das Video von der Hochzeitsgesellschaft, dies ist der Beweis. Schnitt. Der General tritt ans Mikrofon und sagt: Nein, nein, das muss ein Irrtum sein, wir haben ganz andere Informationen, und wir können das auch beweisen. Wir haben Waffen gefunden. Der General lässt ein paar Fotos mit Schnellfeuerwaffen an die Wand projizieren, dann sagt er "Thank you" zu den Journalisten und geht mit seinem Adjutanten schnell aus dem Raum.

Die Bilder aus dem Irak werden in diesen Tagen und Wochen auf mehreren Kanälen von Bildern des Warschauer Aufstands gegen die nationalsozialistischen Besatzer eingerahmt. Das war vor 60 Jahren; beim Fernsehen entrinnt kaum ein relevantes Ereignis aus der deutschen Geschichte des letzten Jahrhunderts der Erinnerungsmaschinerie.

In den sechziger Jahren war das noch vollkommen anders. Erinnerung war eher riskant, gelegentlich kam sie wie ein Schock. Da musste ich als junger Assistent einer ARD-Fernsehdirektion Überstunden machen, um nach der Sendung eines kleinen Schwarzweiß-Films über das SS-Massaker im französischen Dorf Oradour-sur-Glane aufgebrachte Zuschauerpost - Schluss mit der Nestbeschmutzung! - zu beantworten. Solche Briefe dürften heute seltener geworden sein.

Der Erinnerungsbetrieb läuft auf Hochtouren - mit dem Schock, dem Erschrecken, der wirklich tiefen Erschütterung hat Guido Knopps Geschichtsdauerschleife aufgeräumt. Heute laufen Dreiteiler über Görings Kammerdiener. Kaum einer schaut mehr hin.

Mit dem Warschauer Aufstand kommt Tempo in den Erinnerungsbetrieb. Er war im Spätsommer 1944 zerschlagen, aber die ARD sendet schon mal schnell im Mai, weil die Fußball-EM und danach die Olympiade so viel Sendefläche wegnehmen, dass für den Warschauer Aufstand womöglich kein Platz mehr bleibt.

Am fünften Tag nach dem US-Luftangriff auf das irakische Dorf nahe der syrischen Grenze, nordwestlich von Bagdad, nehmen sich auch einige Online-Dienste im Internet die Indizien genauer vor. Das Video von der Hochzeitsgesellschaft wurde den Reportern der Agentur AP-TN zugespielt. Die Reporter vergleichen die Bilder des Videos mit den eigenen Bildern. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass sie recht haben: Die Toten waren Gäste einer Hochzeitsfeier. Sie erkennen in den Bildern Überlebende wieder, die sie nach dem Angriff interviewt hatten, und sie erkennen einen Toten wieder, der im Videofilm noch lebendig war. Einen Musiker, man sieht ihn in den Hochzeitsszenen am Keyboard stehen. Kriminalistische Kleinarbeit: Auf den Bildern von AP-TN sind zerstörte Musikinstrumente, Haarbüschel und eine Blutlache zu sehen, unter den Zelttrümmern bunte Bettwäsche, wie sie im Irak bei Hochzeitsfeiern gebräuchlich ist.

CNN zitiert Brigadegeneral Kimmit jetzt mit der Version, man habe wohl ein Schmugglernest zerbombt. Es seien in dem Dorf Mogr al Dib Waffen, Ferngläser, Batterien, Notizen mit afghanischen Telefonnummern, ausländische Pässe, Bettdecken und Kleider gefunden worden, außerdem ein weißes Pulver, vielleicht Kokain.

In Warschau wurde der Aufstand der unzulänglich bewaffneten polnischen Heimatarmee, deren politische Führer vergeblich auf die Hilfe der Roten Armee hofften, von der deutschen Wehrmacht mit unvorstellbarer Brutalität niedergeschlagen. Die Stadt war danach ein Trümmerfeld, im Kampf ums Überleben hatte sich die Bevölkerung in die Keller und unterirdischen Kanäle zu retten versucht. Auf das Konto des Generalleutnants der Waffen-SS Reinefarth gingen 50.000 ermordete Zivilisten. Seine Panzer fuhren vor die Häuser und zerschossen die Stockwerke, dann rückten die Truppen nach und massakrierten, was noch nach Leben aussah oder Zuckungen von sich gab.

Michael Grambergs Dokumentation Zwischen allen Fronten ist ein Kriegsfilm, der manchen amerikanischen Blockbuster dieses Genres als Sandkastenspiel erscheinen lässt. Das Material stammt von Kameraleuten der Heimatarmee, die mit ihrem schweren Aufnahmegerät, aus Schießscharten oder Kellerlöchern, im Feuerschutz der Aufständischen oder ohne jegliche Deckung ihre Bilder drehten. In einem provisorischen Kopierwerk wurde das Material entwickelt; dreimal liefen in den Wochen des Aufstands im Kino Palladium die "Bilder vom Tage". Der Saal war überfüllt, ein Rundfunkredakteur kommentierte die Filmstreifen, zwischendurch wurde Beethoven von der Platte gespielt, draußen wurde geschossen.

Dass es die Filmbilder vom Warschauer Aufstand gibt, grenzt an ein Wunder. Heute filmen die Raketen ihre Einschläge und die Folterer ihre Quälereien selbst, Videoanlagen lauern auf Selbstmordattentäter, und wo etwas in die Luft geht, stehen mindestens drei Kameras. Noch im entlegenen Wüstendorf werden die Mörder durch ein Home-Video überführt. Die Bilder von den modernen Schlachtfeldern quellen aus allen Kanälen; auf der CNN-Homepage läuft der body count; fast jedem Toten, sofern er der Koalition gegen den Terror angehört, wird eine family story nacherzählt. Eine neue Asymmetrie zeichnet sich ab: Für die Terror-Krieger dürfte das Kriegführen leichter, für die Anti-Terror-Krieger hingegen schwieriger geworden sein.


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