Im Jahr 1206 wurde Temüdshin, der Stammesfürst der Bordschigid, auf einem Reichstag aller mongolischen Stämme zum Groß-Chaan ernannt. Er erhielt den Titel "Tschinggis Chaan", was soviel bedeutete wie "Ozeangleicher Herrscher". Damit war die Gründung des ersten mongolischen Staates vollzogen - ein Ereignis, das die Mongolei in diesem Jahr ausgiebig zu feiern versteht.
Was weiß der Deutsche von diesem Land? Fast jeder kennt den Namen Tschinggis Chan (so die exakte Schreibung), er weiß, dass die Mongolen in Zentralasien und traditionell von einer nomadisch betriebenen Viehwirtschaft leben. Vielleicht noch, dass die Nachfolger des Tschinggis das größte zusammenhängende Weltreich der menschlichen Geschichte eroberten. Unter Umständen hat sich auch herumgesprochen, dass seit 1992 eine neue Verfassung dem Sozialismus einer über sieben Jahrzehnte existierenden Mongolischen Volksrepublik (MVR) abgeschworen hat.
Tschinggis Chaan im Herzen
Der Interessierte konnte in Bonn und München die große Ausstellung Dschingis Khan und seine Erben besuchen und Filme wie Die Geschichte vom weinenden Kamel und Die Höhle des gelben Hundes der jungen mongolischen Regisseurin Byambasuren Davaa sehen. Er wird den Obertongesang und das Spiel auf der Pferdekopfgeige ebenso schätzen wie die inzwischen zahlreichen Reisereportagen, die im Fernsehen über die Mongolei gesendet wurden und bei denen unweigerlich - zumindest im Untertitel - von "Dschingis Khan" die Rede war.
Besagter "Ozeangleicher Herrscher" wird heute in der Mongolei nicht allein als Reichsgründer gewürdigt, der die Steppenvölker einte, sondern ebenso als genialer Feldherr, Gesetzgeber und den verschiedensten Glaubensrichtungen gegenüber toleranter Chaan. Man weiß, dass Tschinggis Chaan und seine Nachfolger erfolgreicher, aber nicht grausamer waren als andere Feudaldespoten des Mittelalters. Die Mongolen waren als "Tartaren", als kampfentschlossene Heerscharen, "die aus der Hölle kamen" (abgeleitet vom lateinischen "ex tartaro"), in Europa gefürchtet. Doch die schon 1236 entworfenen Pläne zur Einnahme Westeuropas wurden nie verwirklicht. Ursache waren der Tod des Großchaans Ögödei, des dritten Sohns Tschinggis Chaans, und eine damit verbundene Ratsversammlung, die Nachfolgefragen zu regeln hatte. Das Weltreich, das schließlich von Korea bis Osteuropa, von Sibirien bis Nordindien und Persien reichte, wurde demnach geteilt und zerbrach im Laufe des 14. Jahrhunderts. Die nachfolgenden zwei Jahrhunderte waren von inneren Stammesfehden überschattet, so dass die Mongolen der Bedeutungslosigkeit anheim fielen.
Im 17. Jahrhundert schließlich wurde der Lamaismus, die tibetische Form des Buddhismus, von den Mandschu, die von 1644 bis 1911 über China herrschten, als dominierende religiöse Botschaft durchgesetzt - es sollte ihr vergönnt sein, die einst so kriegerischen Mongolen zu befrieden.
In Europa galten die Mongolen lange Zeit als "Volk ohne Kultur", dabei hatten sie bereits zu Anfang des 13. Jahrhunderts eine eigene Schrift und brachten eine vielfältige Literatur hervor. Welche Verehrung Tschinggis Chaan zuteil wurde, lässt sich dem bedeutendsten Werk der mittelalterlichen mongolischen Dichtung, der Geheimen Geschichte der Mongolen von 1240, entnehmen. Ein Werk der Weltliteratur, das seit 1989 in moderner Übersetzung vorliegt und seinem Charakter nach viel eher eine epische Reim- als im strengen Sinne eine historische Chronik darstellt. Es enthält erzählerische und lyrische Passagen, die ihre Nähe zur mündlich überlieferten Volksdichtung nicht verhehlen.
Obwohl die Verehrung für Tschinggis Chaan in der Mongolei über Jahrhunderte ungebrochen war, verschwand sein Name in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts in der Zeit der "Großen Säuberung" aus den Schulbüchern. Der bis dahin sakrosankte Weltenherrscher galt als Relikt der Feudalzeit, die mit dem Sozialismus der 1921 entstandenen Volksrepublik überwunden war. Die Revolutionäre Volkspartei (RVP) hielt es für ausgeschlossen, einem Herrscher zu huldigen, der Hunderttausende umgebracht, Kulturstätten vernichtet und sein Reich entscheidender Produktivkräfte beraubt hatte.
Als im Jahr 1962 sowohl in China, wo heute fünf der acht Millionen Mongolen leben, als auch in der Mongolei der 800. Geburtstag des Tschinggis begangen werden sollte, wurden die Feiern in der Hauptstadt Ulaanbaatar - nicht zuletzt auf Wunsch der eng verbündeten UdSSR - abgebrochen, während sie in Peking erkennbar propagandistischen Zwecken dienten.
Erst 1990, zu Beginn der Demokratisierung, wurde der 750. Jahrestag der "Geheimen Geschichte" des Staatsgründers offiziell begangen, auch wenn nicht zu übersehen war, wie die Erinnerung von der heraufziehenden Systemwende überlagert blieb. Mit der nach kurzer Euphorie einsetzenden Enttäuschung über die robusten Härten des freien Marktes, verbunden mit dem partiellen Verlust traditionell humanistischer Werte, wirkte der Kult um Tschinggis Chaan wie eine ideelle Kompensation, der auch nationalistische Tendenzen nicht fremd waren. Identitätsbrüche wurden sichtbar, seit sich Massenarbeitslosigkeit, Kriminalität, Korruption und der teilweise Ausverkauf des Landes an ausländische Banken als "feste Größen" der mongolischen Demokratie zu etablieren begannen. Das hatte man bis dahin nie erlebt: In der Mongolei hungerten plötzlich wieder Menschen, während neureiche Parvenüs ihren Luxus genießen konnten.
Weiße Kragen unter Verdacht
Oft war die Mongolei in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als das "europäischste" Land Asiens hofiert worden. Immerhin hatten bis 1990 etwa 25.000 Mongolen in der DDR an Hoch- und Fachschulen studiert. Nimmt man nur die heute über 35-Jährigen, so haben etwa drei Prozent die deutsche Sprache erlernt. Viele studierten beziehungsweise studieren traditionell an sächsischen Hochschulen: 2002 waren es noch 147 und damit zwei Prozent aller Auslandsstudenten in diesem Bundesland.
Kurz nach dem Ersten Weltkrieg war in Deutschland das Interesse an den Mongolen erwacht wie nie zuvor. Nach der Autonomie der Äußeren Mongolei 1911 und der Revolution von 1921 belebte sich der Handel zwischen beiden Ländern. Ein besonders eindrucksvolles Kapitel war in dieser Hinsicht Mitte der zwanziger Jahre die Delegierung von 50 jungen Mongolen - sie waren zwischen 13 bis 23 Jahren alt - zur Ausbildung nach Deutschland (einige davon reisten allerdings weiter nach Frankreich). Drei oder vier Jahre sollten sie studieren, um danach der Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur der Mongolei zu dienen. Unter ihnen befanden sich der später bedeutende Dramatiker und Romancier Namdag, der Maler und Bühnenbildner Namchaizeren oder der Lyriker und Filmautor Nazagdordsh - zu jener Zeit ausnahmslos Schüler der Freien Schulgemeinde Wickersdorf in Thüringen, einer der renommiertesten Reformschulen der Weimarer Republik.
Als die jungen Mongolen 1929 und 1930 in ihre Heimat zurückkehrten, hatte sich die politische Situation freilich wesentlich verändert. Ende 1928 waren Zeren-Otschiryn Dambardordsh, der Vorsitzende der Revolutionären Volkspartei, und andere Politiker entmachtet worden. Die "deutschen" und "französischen" Mongolen, die durch ihre europäische Kleidung auffielen und deshalb (wegen der besonders in der deutschen Jugendbewegung verbreiteten "Schillerkragen") spöttisch "Weiße Kragen" genannt wurden, konnten zwar anfangs in bis dahin exotischen, weil oft unbekannten Berufen arbeiten, waren aber bald politischer Verfolgung ausgesetzt. Unter absurden Beschuldigungen wurden viele von ihnen zu langjähriger Haft verurteilt - manche überlebten die Repressalien nicht. So blieb der aus heutiger Sicht durchaus ungewöhnliche Schritt der ehemaligen mongolischen Führung, junge Staatsbürger zur Ausbildung ins westliche Ausland zu schicken, ohne Erfüllung. Was dem ganzen Land von Nutzen sein sollte, wurde vertan.
Um dazu ein besonders tragisches Beispiel anzuführen, sei auf Daschdordshijn Nazagdorsdsh (1906 bis 1937) verwiesen. Als Sohn eines armen, aber gebildeten adligen Beamten hatte er schon mit elf Jahren als Hilfsschreiber im Staatsdienst gearbeitet und war durch Privatlehrer früh mit Werken der mongolischen, tibetischen, indischen und chinesischen Literatur in Berührung gekommen. Als Halbwüchsiger ein begeisterter Anhänger der Revolution, studierte er 1925/26 in Leningrad und danach bis 1929 in Leipzig. In Deutschland vollendete er das umfangreiche Gedicht Von Ulaanbaatar nach Berlin (Ein "Reisetagebuch in Versen" von 1926). Er schrieb das berühmt gewordene Gedicht In ein fernes Land, um zu lernen (1927, dt. 1967) und die Skizze Ich erlebte den 1. Mai in einem kapitalistischen Land (1928, dt. 2006), in der er Eindrücke von einer großen Maidemonstration in Leipzig wiedergibt. Diese Arbeit erscheint auch deshalb bemerkenswert, weil Nazagdordsh einer der ersten Dichter Asiens war, der ein solch "europäisches Ereignis" zum Thema eines literarischen Textes für mongolische Leser machte.
In Nazagdorsdshs Gedicht In ein fernes Land, um zu lernen wird auf poetische Weise zum Ausdruck gebracht, wie die jungen Mongolen das Studium fern der Heimat als inneren Auftrag empfanden, dem sie gewachsen sein wollten. Das Gedicht schließt mit den Versen:
Kritisch sichtet Vergangenheit er und
Zukunft.
Über ihm aber, hoch oben,
Flimmern unzählbar die Sterne.
Aus Fernen, die niemals der Wildgänse Flug
erreichte,
Mit Kostbarkeiten im Gürtel
Kehrt er einst heim.
Nachdichtung: Paul Wiens
Nazagdordsh wurde zum Begründer der modernen mongolischen Lyrik - mit philosophischen Gedichten wie Der Stern (1931, dt. 1976), dem Poem Meine Heimat (1933), dem Zyklus Die vier Jahreszeiten (1934, dt. 1967) und Liebes- und Naturversen wurde er ebenso bekannt wie mit "lyrischen Miniaturen" oder poetischen Skizzen in Prosaform. Seine Erzählungen Der Sohn der alten Welt (1930), Weißer Mond und Schwarze Tränen (1932), beide zuerst in der DDR-Wochenzeitung Sonntag (Nr. 1/1968) auf deutsch veröffentlicht, oder auch Die Tränen des Lamas (1930, dt. 1976) wurden in viele Sprachen übersetzt. Und Nazagdordshs Drama Die drei traurigen Hügel (1934) behauptet sich in der Bearbeitung als Oper bis heute als eines der am häufigsten gespielten Werke des mongolischen Theaters.
Es ist nicht verwunderlich, dass Persönlichkeiten wie Nazagdordsh wegen ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber der westlichen Kultur zu Lebzeiten als "gefährlich" eingestuft wurden. Der produktive Autor, der unter anderem die historische Abteilung am Wissenschaftskomitee in Ulaanbaatar leitete, wurde Mitte der dreißiger Jahre zweimal als "Nationalist" verhaftet, bevor er 1937, gerade einmal 30 Jahre alt, verstarb.
Die mongolische Wissenschaft hat in den zurückliegenden Jahrzehnten viel getan, um sich diesem wie auch einem weiter zurückliegenden kulturelle Erbe zu widmen und es möglichst vielen zugänglich zu machen. So kennen viele heute Gombodordshijn Dsanabadsar (1635-1723), der nach dem Einfall der Mandschu zum ersten geistlichen Oberhaupt der lamaistischen Kirche in der Mongolei wurde und heute als Schöpfer einmaliger Plastiken, als Gelehrter und Dichter verehrt wird. Oder Dulduityn Rawdshaa (1803-1856), den Sohn eines armen Viehzüchters, der im frühen Kindesalter zur "Wiedergeburt" eines bedeutenden Heiligen erklärt und zu einem der bedeutendsten Lyriker der vormodernen Mongolei wurde.
Die Schätze dieser zu Unrecht oft wenig beachteten Kulturlandschaft wahrzunehmen, ist dem Mongolei-Reisenden aus Europa heutzutage problemlos möglich, auch wenn das Motiv eines Aufbruchs nach Mittelasien mehr der Sehnsucht nach Ferne, menschenleeren Steppen und kaum erschlossenen Gebirgen geschuldet sein mag. Leider verbinden wir nach wie vor die Geschichte dieses Landes fast nur mit dem Namen Tschinggis Chaans. Doch der 800. Jahrestag der Staatsgründung ist zumindest für die Mongolei auch ein Anlass, sich ihrer beiden Nationaldichter zu erinnern und des 150. Todestages Rawdshaas sowie des 100. Geburtstages Nazagdordshs zu gedenken.
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