Ein kleiner Hof in den Bergen, Kühe auf saftigen Wiesen, ein paar Hühner, die zwischen Obstgärten gackernd im Boden scharren. So stellt sich die Schweizer Bevölkerung ihre Landwirtschaft gern vor. Nun aber will die Denkfabrik Sentience Politics zusammen mit mehr als einem Dutzend Tierrechts-, Tierschutz- und Umweltschutzorganisationen an diesem Image vom Heidiland für Bauern und Vieh kratzen und der Bevölkerung vor Augen führen, wie die Nutztiere in ihrem Land wirklich leben. Dafür greift Sentience Politics auf das Instrument der direkten Demokratie schlechthin zurück – die eidgenössische Volksinitiative. Sie wurde bereits 1891 eingeführt und gibt den Schweizer Stimmbürgern die Möglichkeit, auf direktem Weg über die Aufnahme neuer Bestimmungen in die Verfassung zu entscheiden.
Damit eine Volksinitiative auf Bundesebene zustande kommt, müssen die Initiatoren in anderthalb Jahren 100.000 Unterschriften sammeln. In diesem Fall heißt das konkret: bis zum 12. Dezember 2019. Gelingt das, dürfen die Schweizer über die entsprechende Vorlage abstimmen. Einfach wird es nicht, das wissen die Urheber des Begehrens, geht es bei ihrem Vorstoß doch um nichts weniger als den kompletten Verzicht auf Massentierhaltung.
„Niemand will diese Art der Tierzucht“, ist Meret Schneider aus der Geschäftsleitung von Sentience Politics überzeugt. „Doch denken viele Menschen, dass es in der Schweiz gar keine Massentierhaltung gibt.“ Dieser Eindruck sei den Imagekampagnen der Tierindustrie zu verdanken, die der Staat jährlich mit Millionen Franken aus Steuergeldern subventioniert. Entsprechend hat das Gros der Bevölkerung ein idealisiertes Bild von der Nutztierhaltung. So waren einer Umfrage des Schweizer Tierschutzes STS zufolge über vier Fünftel der Befragten fälschlicherweise der Ansicht, in der Schweinemast wäre Einstreu obligatorisch. Fast genauso viele meinten – wiederum irrtümlicherweise –, Kälber müssten per Gesetz regelmäßig Auslauf haben. Umgekehrt glauben die meisten, im Ausland sei Tierhaltung grundsätzlich schlechter, da hochgradig industrialisiert. Zwar räumt auch Meret Schneider ein, die eigenen Tierschutzgesetze seien die strengsten überhaupt. Davon abzuleiten, dass es allen Nutztieren gut gehe, sei aber falsch. „Unser Gesetz erlaubt zehn Schweine auf der Fläche eines Autoparkplatzes. Ist das keine Massentierhaltung?“
Tatsächlich gibt es keine genaue Definition von Massentierhaltung, bei der auch ökologische Kriterien zur Geltung kommen. „Großbestände“ oder „hohe Besatzdichte“ sind Stichworte, die zwar immer wieder fallen. Aber die Frage, ab wann man von Massentierhaltung sprechen kann, beantworten sie kaum.
Zu utopisch?
Verläuft die Grenze bei 50.000 Hühnern pro Betrieb wie in Deutschland oder bereits bei 18.000 wie in der Schweiz? Für Hansuli Huber vom Schweizer Tierschutz STS wird gern übersehen, dass auch Kleinbetriebe durchaus Tierfabriken sein können, wenn etwa Tiere dauerhaft fixiert würden. Die permanente Stallhaltung sei nämlich genauso ein Merkmal von Massentierhaltung wie der erhöhte Einsatz von Technik, um zu füttern und zu züchten. Trotzdem solle man schon auf die großen Bestände achten, weil in diesem Fall das Tierwohl zwangsläufig auf der Strecke bleibe. „Bei zu vielen Tieren geht der Kontakt des Halters zum Einzeltier verloren, die Betreuungszeit tendiert gegen Null.“
Im von Sentience Politics vorgeschlagenen Initiativtext wird die Massentierhaltung als Form der agrarischen Tierhaltung beschrieben, die das Tierwohl aus ökonomischen Gründen systematisch verletzt. Eine Alternative finde man bei den Vorschriften etwa von KAGfreiland, einem der strengsten Bio-Label der Schweiz. Für Schweinemasten würde das beispielsweise bedeuten: Jedes Tier muss Auslauf haben und auf einer Gesamtfläche von 15 Quadratmetern leben dürfen. Heute liegt in der Schweiz die gesetzlich vorgeschriebene Mindestfläche pro Mastschwein bei nicht mehr als gut einem Quadratmeter.
Würde die Initiative angenommen, hätte das einen Umbruch in der Landwirtschaft zur Folge. Mit welchen Konsequenzen? Wie in Deutschland schreitet auch in der Schweiz das „Bauernsterben“ stetig voran. Pro Tag verschwinden im Schnitt drei Höfe, weil sie sich nicht rentieren oder Nachfolger fehlen. Zugleich wächst die Produktion, was bedeutet: Es werden immer mehr Tiere in immer weniger Betrieben gehalten. Es wären die Landwirte solcher Tierfabriken, die bei Annahme der Volksinitiative auf kleinräumige Nutztierhaltung umrüsten oder ganz aufhören müssten.
Nicht wenige halten das für utopisch und erklären, eine solche Volksinitiative sei nicht das geeignete Mittel, um Reformen anzustoßen. Es brauche realistische Ziele. Für den Tierschützer Hansuli Huber könnte eines dieser Ziele darin bestehen, dass die Politik Tierwohl-Förderprogramme auflegt. Bezogen auf den Konsum wäre die nachhaltige Unterstützung des Biomarktes ein weiterer Anreiz. Der Handel sollte Landwirte fair entlohnen, sodass sich naturnahe, ökologische und tierfreundliche Landwirtschaft wieder rentiert. Gleichwohl steht Huber der Initiative gegen Massentierhaltung wohlwollend gegenüber. Diese Bewegungen seien der Beweis für eine lebendige Demokratie und böten die Chance, Themen zu diskutieren und zu politisieren. Das sieht auch Meret Schneider so. „Natürlich wollen wir am Ende die Abstimmung gewinnen, aber genauso wichtig ist uns das Anliegen, die Debatte über Tierrechte in die Gesellschaft zu tragen.“
Dass sie aus Sicht von Tierrechtlern womöglich zu moderat agiert, weiß Meret Schneider. Es wird nicht das Recht auf Freiheit, Leben und Unversehrtheit der Tiere verlangt, also nicht das Ende der Nutztierhaltung propagiert, sondern „bloß“ eine alternative Haltung. Schneiders Meinung nach sollte man aber Synergien nutzen, statt sich abzugrenzen. Um voranzukommen, brauche es nämlich beide: diejenigen, die mit ihren Aktionen für Tierrechte sorgen, und jene, die versuchen, auf realpolitischer Ebene Erfolg zu haben.
Diese Position teilt auch Konstantinos Tsilimekis von der Albert Schweitzer Stiftung für unsere Mitwelt, die in Deutschland bereits viele Kampagnen für den Schutz von Nutztieren lanciert hat. Zwischen der Implementierung von Tierrechten und der Lage jetzt gebe es „eine riesige Grauzone“, und eine Initiative gegen Massentierhaltung gehöre durchaus dazu. In Deutschland wäre Derartiges unmöglich, glaubt Tsilimekis. Bürgerinitiativen seien für die Politik oft nicht bindend. Zudem brauche es sehr viel Engagement, um genügend Stimmen zu sammeln und einer solchen Initiative bundesweit Geltung zu verschaffen.
In der Schweiz dagegen hat die Volksinitiative umgehend Organisationen hinter sich wie Tier im Fokus (TIF) und ihren Präsidenten Tobias Sennhauser. Seine Aktivisten bringen regelmäßig verdeckt gedrehte Aufnahmen über die Zustände in Tierfabriken an die Öffentlichkeit. Dass es in der Initiative vordergründig um die Haltung der Tiere, nicht um das ausbeuterische System dahinter geht, sieht Sennhauser eher als einen Vorteil: „Unsere Erfahrung zeigt, dass sich Medien und Politik nicht sonderlich für Grundsatzdebatten über Tierrechte oder Tierwürde interessieren. Sie brauchen etwas Konkretes wie eine Debatte über Haltungsbedingungen. Natürlich sollte die Diskussion darüber hinausgehen und die Nutzung von Tieren zur Produktion von Fleisch, Milch und Eiern grundlegend hinterfragt werden. Ich denke, diese Initiative hat das Potenzial dazu.
Bis dahin ist es noch ein steiniger Weg. Um eine Volksinitiative Erfolg versprechend auf den Weg zu bringen – von der Idee bis zur Abstimmung –, braucht es schätzungsweise eine Million Franken und Hunderte, vielleicht sogar Tausende Helfer, die Unterschriften sammeln, Bündnisse schmieden, lobbyieren und politisieren. Meret Schneider ist trotzdem zuversichtlich. Aus ihrer Sicht ist die nationale Volksinitiative ein hervorragendes Mittel, um Medienaufmerksamkeit zu generieren, die Bevölkerung zu sensibilisieren und die Tierindustrie sowie die Parteien herauszufordern. Mehr auf einmal geht nicht, ist Schneider überzeugt. „Immer mehr Menschen setzen sich mit ihrer Ernährung auseinander, der Bio-Markt boomt, der vegane Trend ist nicht aufzuhalten. Wir müssen auf dieser Welle reiten, jetzt oder nie.“
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