Flucht kennen sie hier

Migration Die Balkanroute verschiebt sich weiter von Serbien nach Bosnien. Wenn erst der Winter beginnt, droht eine humanitäre Krise
Ausgabe 46/2018

Wir schauen nun erst recht von Tag zu Tag.“ Es ist Ende Oktober, und Amira Hadzimehmedovic von der Internationalen Organisation für Migration (IOM) steht am Eingang von Borići, einer mehrstöckigen Ruine am Rand der bosnischen Stadt Bihać, unweit der kroatischen Grenze. Vor dem Bosnienkrieg zwischen 1992 und 1995 mit 100.000 Toten und zwei Millionen Vertriebenen war Borići ein Internat für Studenten. Seit einigen Monaten hausen hier etwa 1.000 Geflüchtete aus Syrien, dem Irak, Pakistan, Afghanistan und Nordafrika. Vielleicht sind es auch mehr, denn registriert wurden sie bisher nicht.

„Uns sind die Hände gebunden. Niemand fühlt sich verantwortlich, alle sind überfordert. Am meisten die Regierung in Sarajevo“, sagt Hadzimehmedovic. Wie die Politik mit der Flüchtlingswelle umgehe, die sich seit dem Frühjahr von Serbien nach Bosnien verlagert habe, sei bloß die Spitze des berühmten Eisberges. „Wir haben eine Regierung, die sich selbst ständig lähmt.“

Bosnien ist nun unregierbar

Das sehen viele so. Bei den Parlamentswahlen am 7. Oktober blieb fast die Hälfte der bosnischen Bevölkerung zu Hause. „Es ändert sich doch nichts“, das war der Grundtenor in den Wochen zuvor. Bosnien, seit dem Friedensabkommen von Dayton 1995 in die Föderation Bosnien-Herzegowina und die Republika Srpska aufgeteilt, ist inzwischen faktisch unregierbar. Seinerzeit wurden alle wichtigen politischen Ämter paritätisch mit je einem Vertreter der im Land ansässigen muslimischen Bosniaken, katholischen Kroaten und orthodoxen Serben besetzt – und zwar vom Präsidium über die Ministerien bis hin zum Gemeinderat. Das blieb bis heute so, was dazu führt, dass Bosnien derzeit über 14 Parlamente verfügt, 136 Minister sowie drei Präsidenten, die sich in einem Turnus von acht Monaten im Amt des Staatschefs abwechseln.

Ausufernde Dezentralisierung, Korruption und eine überdimensionierte Bürokratie sind Konsequenzen dieses Staatsmodells. Eine serbische Zeitung hat vorgerechnet, dass Bosniens Administration umgerechnet 250.000 Euro verschlingt – pro Stunde. Und dies in einem Land, in dem die Leute durchschnittlich 300 Euro pro Monat verdienen. So oder so scheinen die unterschiedlichen Parteien weitgehend eigene Interessen zu verfolgen. Weil der Wille zur Kooperation häufig fehlt, jedoch alle wichtigen Entscheidungen im Konsens gefällt werden müssen, wird vieles auf unbestimmte Zeit vertagt, so auch der derzeitige Ansturm von Flüchtlingen. Seit sich die Balkanroute immer mehr nach Westen verlagert hat, suchen immer mehr Migranten nach einem Weg durch Europa, der über Bosnien führt. Wurden im Vorjahr weniger als 1.000 Flüchtlinge gezählt, sind es seit Januar 2018 bereits um die 20.000.

Gegenwärtig halten sich etwa 4.000 im Land auf, die meisten im Nordwesten bei Bihać sowie in der Grenzstadt Velika Kladuša. Statt einen Plan zu haben, wie mit dieser Herausforderung umzugehen ist, gibt es seitens der Regierung oft nur gehässige Polemik und scharfe Rhetorik. So hat Milorad Dodik, seit Jahren Führer der bosnischen Serben in der Republika Srpska und soeben mit 57 Prozent der abgegebenen Stimmen wiedergewählt, das „Flüchtlingsproblem“ bisher für den innenpolitischen Zweck instrumentalisiert. Die von Muslimen beherrschte Zentralregierung in Sarajevo heiße die Migranten aus dem Nahen und Mittleren Osten doch nur willkommen, um Bosnien und Herzegowina dadurch endgültig in ein muslimisches Land zu verwandeln, so Milorad Dodik.

Ungewöhnliche Solidarität

Bislang zumindest widersteht die bosnische Bevölkerung mehrheitlich der Propaganda der Nationalisten und sieht in den Geflüchteten keine Gefahr. Zwar habe es in Bihać Proteste gegeben, doch die Solidarität mit den Hilfsbedürftigen sei nach wie vor groß, was nicht selbstverständlich sei, meint Amira Hadzimehmedovic von der Internationalen Organisation für Migration und spielt auf die desolate Wirtschaftslage Bosniens an. Fast 40 Prozent Arbeitslosigkeit, damit liegt das Land nach Dschibuti und dem Kongo weltweit auf Rang drei des Totalabstiegs. Unter diesen Umständen kann die Abwanderung zur Flucht werden. Lebten vor dem Krieg im Jahr 1991 4,5 Millionen Menschen in Bosnien, sind es jetzt noch 3,6 Millionen. Allein in den vergangenen zwei Jahren sollen 80.000 Bosnier ihrem Land den Rücken gekehrt haben.

Letztlich sieht Hadzimehmedovic in der eigenen Geschichte den Grund für die ungewöhnliche Solidarität der lokalen Bevölkerung gegenüber den Flüchtlingen: „Krieg, Flucht, Armut – und das Gefühl, von der Welt vergessen zu werden. Das alles kennen wir selbst auch.“ Die Bereitschaft, zu helfen, sei groß, bestätigt Amin, ein 23-jähriger Afghane, der seit einem halben Jahr am bosnischen Grenzort Velika Kladuša, nur zwei Kilometer von der kroatischen Grenze entfernt, festsitzt. Er musste 2016 aus der Südprovinz Kandahar fliehen, kam über Iran in die Türkei und war von dort unterwegs durch Bulgarien, Mazedonien und Serbien nach Bosnien. Gegenwärtig lebt er mit einem Dutzend Landsleute außerhalb von Velika Kladuša in einem verlassenen Hangar. „Wir erfahren viel Beistand von der Bevölkerung, sie bringen uns Kleider, manchmal auch Essen. Und sie laden uns in ihre Häuser ein, damit wir unsere Telefone aufladen können, denn hier gibt es keinen Strom“, erzählt Amin. Auf die bosnische Regierung könnten sie, die Geflüchteten, jedenfalls nicht zählen. „Die machen nur Versprechungen, von denen nichts erfüllt wird. Und auf die großen Hilfsorganisationen trifft das Gleiche zu.“

Bis vor kurzem war Amin noch in einem Camp auf der anderen Seite der Stadt. Damit sich die Geflüchteten nicht mehr im Stadtpark aufhalten, wurde ihnen dort im Frühjahr von der Gemeinde ein Grundstück zugewiesen. Im Augenblick leben in diesem Lager an die 400 Menschen. „Alles ist verdreckt, es gibt keine Elektrizität, die Wasserleitungen funktionieren nicht immer. Von den hygienischen Verhältnissen ganz zu schweigen. Entsprechend ist die Stimmung unter den Geflüchteten alles andere als gut“, sagt Amin, weswegen er beschlossen hat, vom Lager in den verfallenen Hangar zu ziehen. Tatsächlich scheint das Camp in Vergessenheit zu geraten. Zwar sind die Médecins Sans Frontières bis zu dreimal pro Woche vor Ort, und das Rote Kreuz verteilt Medikamente und Lebensmittel, doch darüber hinaus fühlt sich offenkundig niemand für das Lager verantwortlich. Also bleiben die Menschen sich selbst überlassen.

So sind es neben den Einheimischen vorrangig kleine Gruppen internationaler Freiwilliger, welche die Geflüchteten mit dem Nötigsten versorgen. Dazu gehört „No Name Kitchen“, eine Organisation, die sich 2017 in der serbischen Kapitale Belgrad gegründet hat und jetzt in Velika Kladuša Kleidung ausgibt und Duschen anbietet. Auch Stefan Weigel von der Hilfsorganisation Umino kommt seit Mai regelmäßig mit Gütern aus Passau an die kroatische Grenze. Für ihn ist das Lager von Velika Kladuša mehr denn je zu einem Symbol geworden für eine Flüchtlingspolitik, bei der sich jeder selbst der Nächste ist. „Irgendwie wirkt die Situation vor Ort auch nach Monaten noch immer so, als sei alles kurzfristig eingerichtet worden. Zwar wird der Ruf nach Hilfe lauter, doch ich fürchte – dieser Ruf wird einmal mehr nicht gehört. Dabei kann alles nur schlimmer werden – bald ist Winter.“

Vor der kalten Jahreszeit fürchten sich die Flüchtlinge ganz besonders. Deshalb versuchen viele, noch vor Einbruch des Winters über die Grenze zu kommen – ob mit Hilfe von Schleppern, die ihnen versprechen, sie für 1.500 Euro nach Italien zu bringen, oder auf eigene Faust. Auch Amin hat dieses „Game“ – wie er es nennt – schon einige Male gespielt. Doch immer wurde er von der kroatischen Polizei aufgegriffen und nach Bosnien zurückgeschafft. „Sie haben mich verprügelt, mein Handy zerschlagen und mir alles Geld genommen.“ Wie vor einem Jahr an der serbisch-ungarischen Grenze, so häufen sich nun auch hier die Berichte zu gewalttätigen Übergriffen der Grenzpolizei. Nach Angaben von „No Name Kitchen“ sind zwei Drittel der Migranten, die von der kroatischen Polizei gefasst werden, mehr oder weniger verletzt. Die kroatischen Behörden wollen dafür keine Verantwortung übernehmen, lassen aber durchblicken, dass man in Zagreb – nicht anders als in Budapest – eine rigide Flüchtlingspolitik für angemessen halte. Kroatien ist zwar Mitglied der EU, aber nicht Teil des Schengen-Raums und dürfte einiges daransetzen, dem Rest der EU-Familie zu zeigen, dass es durchweg in der Lage ist, seine Grenzen zu schützen.

Inzwischen hat Amira Hadzimehmedovic von der IOM alle Hände voll zu tun, augenscheinlich kam es nun doch zu einem Entscheid. Das ehemalige Studentenheim Borići soll wintertauglich gemacht werden, als Erstes werden im Erdgeschoss überall Fenster eingesetzt. Zudem hat die Stadt gemeinsam mit „Ärzte ohne Grenzen“ und dem Roten Kreuz in der ehemaligen Lagerhalle Bira ein Camp eingerichtet, mit Betten, Duschen, Toiletten und Strom. Ein Teil der Geflüchteten von Borići wurde bereits dorthin gebracht. Für 600 Menschen soll es Platz geben. Hadzimehmedovic weiß, das wird lange nicht ausreichen. „Der Winter naht, und wir werden eine Katastrophe erleben, wenn wir jetzt nicht vorsorgen. Bira ist ein Anfang, immerhin das.“

Klaus Petrus war einst Philosophieprofessor in Bern. Er arbeitet heute als freier Autor und Fotograf. In den vergangenen Wochen hat er Bosnien und Kroatien bereist

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