Sicher sind wir politisch, alles, was wir tun, ist politisch.“ Shadi Zaqtan holt noch eine Runde Taybeh, „100-prozentig palästinensisches Bier“, wie er sagt. Wir sitzen in seinem Bistro und reden darüber, wie unpolitisch dieses Ramallah – seit Jahrzehnten Hauptstadt des Westjordanlandes – doch geworden ist. Shadi hält dagegen und sagt: „Schau dich um, hier treffen sich Künstler, Unternehmer, IT-Freaks, alle bauen an einem neuen Palästina. Mag sein, wir kümmern uns nicht mehr um Parteien und dieses Gerede über den eigenen Staat. Wichtiger ist, dass wir für unsere Würde kämpfen.“
Kein Zweifel, hier stoßen Welten aufeinander: Shadi Zaqtan ist um die 40, Musiker und Besitzer von „La Grotta“, er führt damit ein angesagtes Lokal in der Altstadt von Ramallah, mitten im Christenviertel. Hier gibt es Alkohol zuhauf, dazu Drogen, getunte BMWs und triefende Bässe. Khaled Samir hingegen, 24 Jahre alt und ohne festen Job, stammt aus Kalandia, einem Camp mit 12.500 Menschen auf einem Viertelquadratkilometer, wo alles zu eng ist, zu laut und zu stickig. Regelmäßig rücken israelische Soldaten ein, weil sie dort einen Standort von Terroristen vermuten. Ramallah und Kalandia – zwei Orte auf verschiedenen Landkarten, könnte man meinen. Dabei liegen sie mit dem Auto keine Viertelstunde auseinander.
Genau so ist das in der Westbank: Vieles ist nah und doch so fern, weil Grenzzäune und Wachtürme dazwischenliegen. So auch hier: Acht Kilometer sind es von Ramallah nach Kalandia, noch einmal acht von Kalandia nach Jerusalem. In der Mitte liegt der von israelischem Militär streng bewachte Kalandia-Checkpoint. An manchen Tagen kann man ihn umstandslos passieren, an anderen dauert es Stunden. Oder man muss nach Hause zurückfahren. Das habe System, darin sind sich Shadi und Khaled einig. „Mit ihren Mauern, Grenzen und Straßen quer durch unser Land wollen die Israelis eines erreichen: dass wir uns nicht mehr bewegen können, träge werden, müde und mürbe.“
Stimmt genau, sagt Saad Dagher, promovierter Ökonom und Agrarwissenschaftler. „Wie können wir als Eingesperrte Geschäfte machen?“ Die Besatzung sei das große Hindernis für ein stabiles Palästina. „Alle Exporte und Importe müssen die israelischen Behörden genehmigen. Das verteuert die Waren und schreckt ausländische Unternehmen ab, bei uns einzusteigen.“ Ohne Wachstum in der Privatwirtschaft aber werde sich die Lage Palästinas nicht bessern, prophezeit Dagher. An Geld fehle es eigentlich nicht. Die Frage sei nur: „Wohin fließt es?“
Das Protzen der Fata Morgana
Nach Ramallah natürlich, munkeln alle. Dort, wo sich eine Shoppingmall an die nächste reiht, wo es an fast jeder Ecke einen trendigen Club gibt, ein asiatisches Restaurant oder ein italienisches Eiscafé. Wo sich Hoteltürme in die Höhe recken und überdimensionale Plakate den Einzug von Pepsi ins Gelobte Land ankündigen. Wo Mercedes die nächste Filiale eröffnet. Wo Tausende Wohnanlagen – noch ohne Fenster und Türen – zu einer Skyline werden, die der aufstrebenden Mittelschicht Palästinas bedeutet: Das alles wartet auf euch, wenn der Frieden endlich einkehrt.
Ramallah, der „Hügel Gottes“, wie es auf Arabisch heißt, war einst ein Bauerndorf, beschaulich und bescheiden. Überschaubar blieb Ramallah mit 30.000 Einwohnern bis heute, auch wenn die Stadt vor lauter Boom und Protz zu platzen droht. „Das alles ist eine Blase, eine Fata Morgana, eine Frage der Zeit“, sagt Professor Roger Heacock, der seit Mitte der 1980er Jahre in der Westbank lebt und an der Bir-Zait-Universität unweit der Stadt Geschichte und Politik lehrt. „Die teuren Autos, in denen junge Palästinenser herumkurven, gehören den Banken, genauso wie viele der leer stehenden Häuser. Ja, es gibt reiche Leute, die Millionen in Immobilien oder in die IT-Branche stecken, doch kommen sie zumeist aus der Diaspora und brennen oft nur ein Strohfeuer ab. Was wir brauchen, ist eine kaufkräftige Mittelschicht. Bis dahin hängt alles von ausländischen Geldgebern ab.“
Und das nicht zu knapp. Jährlich fließen zwischen 1,2 und 1,8 Milliarden Euro an Entwicklungshilfe in die palästinensischen Gebiete. Leider gilt die Regierung von Mahmud Abbas, seit 2004 Präsident, als korrupt. „Es dominieren Vetternwirtschaft und erkaufte Loyalität“, sagt Roger Heacock. Geschätzt wird, dass zwei Drittel der Finanzhilfen für Gehälter und Pensionen von Beamten draufgehen, nicht wirtschaftlichem Aufschwung zugutekommen.
„Wir brauchen nur ein Laptop“
Zurück in „La Grotta“. Am Tisch sitzt, neben Shadi Zaqtan und Khaled Samir, auch Murad Abdel, schnell im Denken und Reden und hervorragend ausgebildet: Studium an der School of Business and Economics der Bir-Zait-Universität, dann zwei Semester in London plus Informatik-Diplom in Amman. Und das mit 26.
Wer Murad hört, muss denken, hier redet die Stimme einer neuen Generation Palästinas. Ungefähr 1.000 vorwiegend junge Leute soll es allein in Ramallah geben, die in den vergangenen Jahren Tech-Start-ups lanciert haben: Online-Plattformen, Apps für Hotelbuchungen, Jobvermittlungen und Krankenversicherungen. Viele beginnen als Kleinunternehmen und nisten sich in Coworking Spaces ein. „Das ist unser Vorteil: Bist du Landwirt oder Bauunternehmer, wirst du von allen Seiten schikaniert, Tag für Tag. Wir aber operieren in der digitalen Welt, da gibt es keine Checkpoints und keine dementen Politiker. Wir brauchen bloß eine Handvoll guter Ideen, einen Laptop, das Internet“, glaubt Murad.
Doch so einfach, das weiß er, ist es nicht. Gerade das Internet war lange viel zu langsam. Bis Anfang 2018 hatte das Westjordanland – wie sonst nur noch Karibikstaaten – keinen 3G-Standard. Ein anderes Hindernis ist das Fehlen von Online-Bezahlsystemen wie PayPal. Aber gerade auf Spenden, die schnell und kostenneutral transferiert werden können, wären kleine Start-ups besonders angewiesen. Und dann, so Murad, mangele es an Kompetenz. „Viele junge Palästinenser gehen ins Ausland und wollen in Europa Karriere machen, zurück könnten sie ja immer, hört man. Und wer hierbleibt, wird häufig von westlichen Hilfsorganisationen abgeworben, die in Ramallah ihre Büros haben.“
Selbst schauen, die Würde bewahren – das ist es, was die drei Männer in „La Grotta“ bei allen Unterschieden ihrer Lebenswelten verbindet. Dass die palästinensischen Gebiete von der Besatzung auch profitieren, wenn man das denn so formulieren will, wissen hier alle. 150.000 Palästinenser arbeiten in Israel oder in den Siedlungen, 80 Prozent aller palästinensischen Ausfuhren gehen nach Israel. Auch im Start-up-Sektor locken die Annehmlichkeiten eines Auskommens mit Israel.
„Nein, niemals werden wir die Besatzung dadurch normalisieren, dass wir uns mit den Israelis zusammenspannen“, interveniert Murad. Shadi nickt ihm zu und bringt noch eine Runde Taybeh an den Tisch. „Wusstest ihr, dass Nadim Khoury, der Besitzer von Taybeh, ein Drittel seines Biers an die Israelis verkauft?“, fragt Khaled irgendwann in die Runde. Shadi zuckt mit den Schultern, als wollte er sagen: „Was willst du machen, manchmal ist es fürchterlich kompliziert in diesem Land.“
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