Horn von Afrika Wieder sterben Hunderttausende. Es redet trotzdem niemand von einer Hungersnot. Denn: Präsident Hassan Sheikh Mohamed hat wenig Interesse daran, für sein Land den Notstand auszurufen. Es könnten schließlich Entwicklungsgelder entfallen
Malyun am Krankenbett ihres Sohnes Hassan im Kinderspital von Borama
Foto: Klaus Petrus
Der Hunger ist ein Kampf des Körpers gegen den Körper. Erst knurrt der Magen, dann streikt er, zieht sich zusammen, will nichts mehr zu sich nehmen. Das mag seltsam klingen, aber: Wer hungert, hat keinen Hunger mehr.
„Sie verlieren Ihre Zuckerreserven, später Ihr Fett. Sie magern ab. Viren attackieren Ihren Körper und lösen Durchfall aus. Sie verlieren große Mengen an Salz, Wasser und Verdauungssäften. Dann trocknen Sie langsam aus. Parasiten siedeln sich in Ihrem Mund an, Ihre Bronchien sind entzündet. Sie müssen husten, doch Sie können kaum atmen. Sie röcheln. Manchmal dauert es Tage, manchmal Wochen, bis der letzte Rest Ihrer Muskelmasse aufgebraucht ist. Ist es soweit, können Sie sich nicht mehr auf den Beinen halten oder
nicht mehr auf den Beinen halten oder mit Ihren Händen aufstützen. Sie liegen reglos da. Ihre Haut legt sich in Falten, wird brüchig und durchsichtig. Ihr Wimmern wird zu einer Art Summen. Und dann sterben Sie.“So hat der Arzt Ibrahim Liban den Hungertod beschrieben, in einem Kinderspital in Borama, einer Stadt im Norden Somalias, am Krankenbett des kleinen Hassan. Zehn Tage war seine Mutter Malyun, eine Ziegenhirtin und Nomadin, zu Fuß unterwegs hierher, in der Hoffnung, Ibrahim Liban könne ihren Sohn noch retten. Doch der zuckt nur mit den Schultern. Hassan muss mit Schläuchen ernährt werden, sein Atem geht schnell, die Augen sind leer.Fünf Grade des HungersDa ist er wieder, der Hunger am Horn von Afrika. 1992 starben allein in Somalia 200.000 Menschen an Unterernährung, 2011 waren es eine viertel Million, darunter 125.000 Kinder. In beiden Fällen wurde von den Vereinten Nationen die Hungersnot ausgerufen. Jetzt, 2023, befürchtet man noch mehr Tote; von 500.000 ist beim UN-Kinderhilfswerk (UNICEF) die Rede, sollte in den kommenden Wochen nicht gehandelt und abermals die Hungersnot erklärt werden. Denn dann würden Gelder und Güter fließen, Regierungen müssten agieren, Hilfsorganisationen hätten mehr Spielraum. Was bisher aber nicht geschah. Wieso eigentlich nicht? Weil der Hunger immer auch – und vielleicht zuallererst – ein Politikum ist.Es beginnt bereits bei der Definition. Gemäß Weltgesundheitsorganisation (WHO) hungern erwachsene Personen, wenn sie weniger als 2.200 Kilokalorien täglich zu sich nehmen, Säuglinge, wenn sie nicht 700 Kilokalorien täglich bekommen, und Kleinkinder bis zu zwei Jahren, wenn die Menge an täglichen Kilokalorien weniger als 1.000 beträgt. Die internationale Hungerskala IPC unterscheidet fünf Grade des Hungers – von minimalem Hunger (Stufe 1) über akuten Hunger (Stufe 3) bis zur Hungersnot (Stufe 5). Letztere ist als Katastrophenlage charakterisiert. Um eine Hungersnot auszurufen, müssen weitere Kriterien erfüllt sein, wie: In einer bestimmten Region hat einer von fünf Haushalten keinen Zugang zu Nahrung; mehr als 30 Prozent der Kinder unter fünf Jahren in diesem Gebiet sind akut unterernährt; mindestens zwei von 10.000 Menschen dort sterben im Zeitraum von 90 Tagen an Hunger.Allerdings haben diese Kriterien ihre Tücken. So ergibt der Zeitraum von 90 Tagen zwar Sinn bei akuten Ereignissen: Erdbeben, Überschwemmungen, einer Heuschreckenplage, Terroranschlägen – Tausende von Menschen haben dann plötzlich keinen Zugang mehr zu Essen und Trinken, sie müssen die Flucht ergreifen. Die UNO geht davon aus, dass weltweit bis zu 50 Millionen Menschen pro Jahr von derlei Ausnahmesituationen betroffen sind. Doch was ist mit schleichendem Hunger? Kein plötzliches Drama hat ihn verursacht, keine Katastrophe, die über Menschen hereinbricht, sondern – wie in Somalia – die Tatsache, dass die letzten fünf Regenzeiten ausgefallen sind, die Terrormiliz al-Shabaab seit Jahren die Menschen bestiehlt, verfolgt, in Armut und Hunger treibt oder die eigene Regierung in Korruption versinkt. Wer deshalb hungern muss, hungert nicht akut, sondern chronisch.Angst vor VerlustenChronischer Hunger ist kein Ereignis, sondern Alltag – und führt in fast allen Fällen zu Mangelernährung. Die WHO geht davon aus, dass weltweit zwei Milliarden Menschen davon betroffen sind, allein in Somalia sind – vorsichtig geschätzt – von den 17 Millionen Einwohnern derzeit 6,7 Millionen mangelernährt. Sie haben nicht immer, nur manchmal zu essen, doch handelt es sich dabei häufig, auch das ein Nebeneffekt chronischen Hungers, nicht um ausreichend nährstoffreiche Nahrung. Mangel- und Fehlernährung wird denn auch als „unsichtbarer Hunger“ (Jean Ziegler) bezeichnet und führt bei Kindern wie Erwachsenen nicht bloß zu Vitamin-, sondern auch zu Zink- und Jodmangel. Die Folgen lassen sich beziffern: Infolge der durch Vitamin-A-Mangel ausgelösten Krankheiten wie Malaria, Röteln oder Augenentzündungen sterben gemäß WHO jedes Jahr 600.000 Kinder unter fünf Jahren; infolge schweren Durchfalls durch Zinkmangel sind es 800.000. Schließlich kommen jährlich 20 Millionen Kinder mit unterentwickelten Gehirnen auf die Welt, verursacht durch chronischen Jodmangel der Mütter.Auch für den Arzt Ibrahim Liban aus dem Kinderspital in Borama ist dies eine der nachhaltigen Folgen des Hungers. „Selbst wenn Hassan wieder gesund werden sollte – aus ihm wird kein Einstein, Ingenieur oder Lehrer, ein Taxifahrer vielleicht oder ein Viehhirte. Entschuldigen Sie mein Reden, aber in unserem Land kommen seit Generationen nur noch Idioten zur Welt. Wie soll das alles enden?“ Ein anderes Problem sind die Zahlen. Die UNO ruft nur dann eine Hungersnot aus, wenn die Faktenlage klar ist. Im Falle von Somalia ist sie das selten. So sucht man das Land auf dem Welthunger-Index von 2022 vergeblich. Die ersten drei Plätze werden vom Jemen, der Zentralafrikanischen Republik sowie Madagaskar belegt – und das, obschon NGOs regelmäßig monieren, es deute alles darauf hin, dass Somalia bereits seit Jahren ein Extremfall ist. Tatsächlich taucht das Land auf dem Index nur deswegen nicht auf, weil verlässliche Zahlen zum Hunger fehlen. Die am Horn von Afrika tätige deutsche Welthungerhilfe (WHH) spricht von 7,1 Millionen Betroffenen, 6,7 Millionen seien mangelernährt, darunter 500.000 Kinder. Zudem hätten fast vier Millionen Menschen keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, eine weitere Million Menschen – zumeist Viehhirten – seien durch dauernde Trockenheit zu Binnenflüchtlingen geworden.Dabei räumt Alexander Fenwick, WHH-Verantwortlicher für Somalia, ein, dass es sich um Schätzungen handelt, die zu tief angesetzt seien. Zu Gebieten, in denen bereits Hungersnot herrsche, habe man kaum Zugang und sei auf Angaben von Personen angewiesen, die aus diesen Regionen flüchten mussten. Fenwick meint Territorien im Südwesten Somalias, die weitgehend von al-Shabaab kontrolliert werden. Obschon die Milizen an Einfluss verloren haben, stehen sie nach wie vor in Opposition zur somalischen Regierung. Sie machen sich die Not der Viehhirten zunutze und rekrutieren aus den Reihen der hungernden Nomaden künftige Gotteskrieger. Auch setzen sie Hilfswerke unter Druck, indem sie ihnen die Arbeit in den Hungergebieten erschweren. Nicht wenige Organisationen sind gezwungen, mit al-Shabaab zu verhandeln; andere, wie das Welternährungsprogramm (WFP) oder UNICEF, wurden von al-Shabaab der Hungergebiete verwiesen.Der somalische Präsident Hassan Sheikh Mohamed, seit Frühjahr 2022 im Amt, sagte vor Kurzem: „Das Risiko, wenn man eine Hungersnot erklärt, ist sehr hoch. Dies kann die Entwicklung im Land lähmen.“ Auf den ersten Blick scheint diese Aussage nicht schlüssig. Die Erfahrung zeigt, dass mit einer solchen Erklärung nicht bloß die mediale Aufmerksamkeit wächst, sondern auch die internationale Hilfsbereitschaft. Konkret rechnet die UNO für Somalia mit einer ersten Tranche von über einer Milliarde Dollar, falls die Hungersnot ausgerufen werden würde. Freilich handelt es sich, wenn eine „akute Katastrophenlage“ geltend gemacht wird, um kurzfristige Nothilfe.An einer solchen scheint Präsident Mohamed nur wenig Interesse zu haben. Offenbar befürchtet er, dass Entwicklungsgelder – sollte die Hungerkrise länger anhalten, was wahrscheinlich ist – für Langzeitprojekte entfallen. Gelder, welche die somalische Regierung bisher nutzt, um einen Beamtenstaat zu etablieren oder die Terrormiliz al-Shabaab in Schach zu halten. NGO-Vertreter sehen noch ein anderes Motiv: Würde in Somalia wieder eine Hungersnot ausgerufen, würde dies selbst die letzten ausländischen Investoren vertreiben. Auf deren Geld aber ist die somalische Regierung angewiesen. Tatsächlich beteuerte Präsident Mohamed noch vor Kurzem, er sehe derzeit „kein unmittelbares Risiko für eine Hungersnot“.Definitionen, Zahlen, Kriterien – wer vom Hunger spricht, redet irgendwann von etwas Abstraktem. Dabei existiert der Hunger, wenigstens medizinisch gesehen, niemals außerhalb des Menschen, der an ihm zugrunde geht. Ob jemand dort draußen eine Hungersnot ausruft, mag denen im Kinderspital von Borama im Nordwesten von Somalia egal sein, so möchte man meinen. Und doch: 2011, als in diesem Land letztmals offiziell diese Notlage erklärt wurde, zählte man am Ende 250.000 Hungertote; mehr als die Hälfte war schon vor der Verkündung der Katastrophensituation gestorben. Später hieß es, man habe zu lange gewartet. Und diesmal? Für Hassan ist es längst zu spät. Der kleine Junge von Malyun, der einmal Pilot werden wollte, ist an Entkräftung verstorben.
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