Es gibt so viele Definitionen von "Kultur" wie Möglichkeiten, sich bei einer Sandwichkette wie Subway ein Käsebrot zusammenzustellen. Aber nehmen wir die von Max Weber. Ihm zufolge ist Kultur ein selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe, das sich jederzeit in Herstellung und Wandel befindet und umdeutbar ist. Kultur ist demnach flexibel, kein Monolith.
Das ist der Grund, warum zum Beispiel der "Karneval der Kulturen", der am Wochenende in Berlin stattfand, nervt: Es gibt diese Kulturen nicht, die dort zum gegenseitigen besseren Verständnis aufeinander losgelassen werden. Zerrbilder indischer Sikhs treffen auf Zerrbilder brasilianischer Sambatänzerinnen, die in diesem Kontext alle nur eines sein dürfen: Sikhs und Sambatänzerinnen, ohne Bruch. Und hinterher sagt Mutti zu Vati: "Tanzen kann er, der Afrikaner"
Aber gut, erstens ist man ja schon froh, wenn niemand etwas von einem Migranten-Genom erzählt. Und zweitens ist natürlich auch dieses Gespräch von Mutti und Vati nur eine Fiktion, ein Zerrbild. Die Wahrheit ist: Kultur bewegt sich, und alle wissen es irgendwie.
Ins eigene Bedeutungsgewebe eingeflochten
Soeben, im Rahmen des dort ausgetragenen Eurovision Song Contests, hat es zum Beispiel Aserbaidschan geschafft, nicht mehr als irgendwas zwischen Sibirien und Iran wahrgenommen zu werden, sondern als Teil Europas. Christian Kracht schrieb 1998 einen Reisebericht aus Baku, und darin kommt vieles von dem vor, was nun im Rahmen des Contests plötzlich interessant wurde: "Barbie Girl", Öl, Chiffonschals, ausgezeichneter Porridge und die Präsidentenfamilie Alijew, die alles im Griff hat. Es ist also nicht so, dass die Dinge nicht vor uns gelegen hätten. Sie gehörten aber nicht zum selbstgesponnenen Bedeutungsgewebe. Sie waren schwer einzuordnen und damit egal. Nun aber wurde Aserbaidschan von den Contest-Rezipienten zumindest vorübergehend ins eigene Bedeutungsgewebe eingeflochten, was sich dadurch bemerkbar machte, dass plötzlich eine neue Frage im Raum stand: Wie verhält man sich zu Aserbaidschans Regime?
Griechenland derweil droht seinen Status der Zugehörigkeit zu manchem selbstgesponnen Bedeutungsgewebe zu verlieren. Otto Rehhagel ist nicht mehr Nationaltrainer. Und dann auch noch diese Sache mit dem Euro und der kollektiven Steuerhinterziehung, die IWF-Chefin Christine Lagarde den Griechen in einem Interview vorwarf. Sie teilte auch mit, dass sie weniger an verarmte Griechen als an die armen Kinder in Niger denke, das dafür "die ganze Zeit". Arm sein kann er, der Afrikaner?
Jeder spinnt sich wohl sein Bedeutungsgewebe, so gut er kann.
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