Sigmar Gabriel hat stark abgenommen, trägt einen karierten Anzug und besteigt das Podium im Willy-Brandt-Haus mit dem Schwung eines Mannes, der nach vier weiteren Jahren Großer Koalition unter Angela Merkel Kanzlerkandidat 2017 werden will. Und dann sagt Sigmar Gabriel, dass er Barbara Hendricks heiße, SPD-Schatzmeisterin sei und einspringe, weil er, also Gabriel, erkrankt sei.
Das ist dann erst einmal Pech. Heinz Buschkowsky, Neuköllns Bezirksbürgermeister, stellt hier sein Buch Neukölln ist überall vor, das natürlich von nicht gelingender Integration handelt, weil das das einzige Thema ist, zu dem ihm zugehört wird. Aber niemand besucht ja eine Lesung wegen eines Buchs, sondern nur wegen des Drumherums. Und dafür war eben der SPD-Vorsitzende angekündigt, was irgendwie glamourös wirkte.
Andererseits ist Gabriels Abwesenheit egal, denn die Leute – 400 bis 500 – sind ja jetzt schon da. Und es hätte Schlimmeres passieren können als Hendricks. Ihre Teilnahme ist letztlich sogar ein Glücksfall, denn wer zu Buschkowsky kommt, will keine Analyse, sondern Tumult, und an dem ist dann auch sie beteiligt.
„Heinz!“ – „Heinz!!!“
Als Buschkowsky in der Diskussion eine Kitapflicht ab dem 13. Lebensmonat vorschlägt – eine Idee, die nicht einmal Ursula von der Leyen von den Sozis klauen würde –, sagt Hendricks, verfassungsrechtlich sei das wohl problematisch. Buschkowsky dann: „Schule ist staatlich verordnete Freiheitsberaubung.“ Und Hendricks: „Heinz.“ Und Heinz, jetzt schneller sprechend: „Warum soll man mit sechs Jahren seiner Freiheit beraubt werden dürfen?“ Und Hendricks, lauter werdend: „Heinz!“ Und Heinz: „Und mit drei Jahren nicht?“ Sie: „Das bringt doch nichts.“ Er: „Die Verfassung kann man ändern.“ Sie: „Nein!“ Er: „WASN NU LOS, seit wann kann man die Grundrechte...?“ Sie: „Heinz! Lass mich mal ...“ Er: „Artikel 1 und 20, DIE kann man nicht ändern!“ Und sie: „Heinz, ich hab‘ doch nicht...“ Und er, jetzt in Highspeed: „Für die Bankenrettung wurde das Grundgesetz geändert.“ Und sie, jetzt in Flugzeuglautstärke: „HEINZ!“ Ein wunderbares Schauspiel, das hier verkürzt widergegeben wird, zugegeben. Aber auch noch Argumente mitzuschreiben, das ist in dem Tempo völlig unmöglich.
Es geht also „lebendig“ zu, um Hendricks Vokabular zu verwenden. Schließlich tritt ein Mann auf, der zuvor pflichtgemäß als Rassist beschimpft und sogar irrerweise mit diesem norwegischen Attentäter verglichen worden war. Die kleine Überraschung des Abends ist, dass es dennoch weder eine Wird-man-doch-mal-sagen-dürfen-Stimmung gibt noch richtige Proteste. Das Publikum ist nicht einmal strikt zweigeteilt in Fans und Gegner, wie seinerzeit bei Vergleichsgröße Sarrazin.
Dessen Name schwebt zwar im Raum, wird aber nur zur Distanzierung gebraucht. Buschkowsky wird etwa vorgestellt als jemand, der Zahlenkolonnen nicht für das Leben halte. An einem Bistrotisch unterhalten sich zwei junge Leute darüber, dass es schon ein Fortschritt sei, dass Buschkowsky nicht über Gene herumschwadroniere. Und am Büchertisch gibt es Meinungen zur Integrationsdebatte von Seyran Ates bis Mark Terkessidis. Es gibt den Koran, das Märchen von der gescheiterten Integration und ein Buch, das Anti-Sarrazin heißt; nur Sarrazin gibt es im Willy-Brandt-Haus natürlich nicht.
Man kann sagen, dass sich ein buntes Bild entwickelt, was aber weniger an Buschkowskys Buch liegt als an der Zusammenstellung der Runde. Neben Hendricks gehört die Integrationsbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion dazu, Aydan Özoguz, die Buschkowsky widerspricht. Vor allem kritisiert sie, dass er vieles vermische: „Ich bin für eine Entkopplung von Themen von kulturellen Hintergrundgedanken“, sagt sie. Buschkowsky schaue auf die Herkunft der Neuköllner statt auf das, „was ist“.
Was Buschkowsky zu sagen und nun halt auch aufgeschrieben hat, sagt er seit Jahren. Er berichtet von Vielehe, paralleler Justiz und fremden Essensgerüchen. Er hat Einzelbeispiele noch und nöcher dafür, dass Integration nicht klappt. Er hantiert aber mit verrostetem Analysewerkzeug: Er spricht von „Parallelgesellschaften“; er definiert, wie Özoguz kritisiert, Heimat über den Geburtsort der Urgroßeltern, und er schimpft auf Kulturrelativismus, als gäbe es irgendwo eine reine Lehre zu erhalten. Er tut so, als wäre es ein wertvoller Debattenbeitrag, die dümmsten Einwürfe aller, die anders denken als er, als den Kern allen Andersdenkens darzustellen. Er sorgt selbst mit dafür, dass Neukölln den Stempel verpasst kriegt, der zu jener „Angst vor Überfremdung“ führt, die er dann wenigstens für bekämpfenswert erklärt. Wenn Buschkowsky Neukölln erklärt, ist es, als würde ein Steinmetz versuchen, mit einem Meißel eine Zahnfüllung einzupassen.
Aus der Flunderperspektive
Er hat natürlich valide Punkte, und man kann ihm, auch wenn man seine harten Vorschläge und seine Sozialschmarotzerkritik schlechtheißt, abnehmen, dass er etwas will: Kitapflicht, Ganztagsschulen. Er wirkt kompromissbereit bei allem, „was hilft“. Eine kluge Betrachtung ist sein Vortrag aber deswegen noch lang nicht. Buschkowsky sagt, dass er „aus der Flunderperspektive“ auf Neukölln schaue, und aus der bekommt man einfach keinen Überblick. Er konzentriere sich auf das, was nicht gut laufe: Bei einer Straßenkreuzung würden ja auch Unfälle gezählt und nicht die Autos, die unfallfrei passierten. Der ganze Rest aber, und das missfällt wiederum Aydan Özoguz, kommt bei ihm nur in Feigenblattpassagen vor. Einer der Jusos im Saal fasst das Buch so zusammen: „Fünf Seiten Keule, eine Seite Relativierung.“
Hinterher bildet sich eine Traube von Buchkäufern um den Bezirksbürgermeister, die sich ihre Exemplare für Dieter oder Martha-Luise signieren lassen, während Aydan Özoguz ein Interview auf Türkisch gibt. Drei starke Männer passen auf Buschkowsky auf und gucken wahnsinnig streng. Sie haben aber nichts zu tun.
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