Die jungen Männer mit den Kapuzenpullovern legten sich einen ausgefeilten Schlachtplan zurecht, während sie ihre durstigen Kehlen mit Jacky-Cola düngten. Wer steht Schmiere? Wer lenkt die Verfolger ab? Jeden Handgriff sprachen sie durch. An diesem 1. Mai sollte alles anders werden. Sie wollten sich nicht, wie sonst, zurückdrängen lassen, nein, diesmal wollten sie gewappnet sein. Sie besorgten sich sogar Äxte.
„Die Anderen“, wie sie ihre Gegner nannten (oder „Die Schweine“), setzten im Vorfeld des 1. Mai dagegen auf Deeskalation. An einer neuerlichen Auseinandersetzung zeigten sie sich zunächst wenig interessiert. Leute, nicht schon wieder, sagten sie, dieses Jahr bitte mal nicht. Langweilig werde er langsam, dieser ewige Fight um nichts und wieder nichts. Aber die jungen Männer ließen sich nicht abbringen: Das 1.-Mai-Ritual ausfallen zu lassen, bedeute eine Zementierung der Machtverhältnisse, erwiderten sie. Und zogen es durch.
Sie fällten den Maibaum vom Marktplatz des Nachbardorfs.
Ein archaischer Dualismus
In vielen Regionen Europas, vor allem in kleineren Gemeinden, praktizieren Jugendliche bis heute den hier beispielhaft geschilderten Maibaumdiebstahl, ein altes Ritual, dessen Sinn sich Außenstehenden schwer vermittelt. Es handelt sich dabei um ein weitgehend ländliches Phänomen. Aber auch in größeren Städten, vor allem in Berlin und Hamburg, kommen am 1. Mai junge Menschen zusammen.
Doch der Unterschied liegt auf der Hand: Während die Städter sich als politisch denkende Wesen gegen Militarismus, Ausgrenzung, Rassismus, soziale Spaltung und den Verdrängungswettbewerb aus den Städten engagieren, während in den Städten also die gesellschaftliche Dynamik zwar konfliktreich, aber eben doch kreativ-konstruktiv gelebt wird, scheinen die Dorfbewohner einem archaischen und kulturchauvinistischen Dualismus verhaftet: Sie agieren auf den ersten Blick als selbsternannte Repräsentanten des Eigenen gegen das imaginierte Fremde; als Vertreter der in sich abgeschlossenen und veränderungsresistenten Kultur ihres als homogen wahrgenommenen Dorfs. Und sie agieren gegen ein benachbartes Dorf, das von besagten „Anderen“ (oder „Schweinen“) bewohnt und das ebenfalls als Ganzheit wahrgenommen wird, die als solche dann pauschale Ablehnung erfährt und mit Waffen – Äxten – bekämpft wird.
So scheint durch das gewaltstrotzende dörfliche 1.-Mai-Ritual ein Verhältnis des feindlichen Umgangs manifestiert zu werden: Im Kampf um den Stamm, nämlich den Baumstamm, wird eine kriegerische Situation zwischen zwei Kulturen nach Art Sarrazins jährlich neu belebt, getarnt und gerechtfertigt als von den Stammesältesten überliefertes Verhalten.
Allerdings greift diese Sichtweise auf das Ritual bei näherer Betrachtung zu kurz: Spontane Ablehnung des anti-aufklärerisch wirkenden Volksbrauchtums gründet auf einer Fehleinschätzung des gesamten ländlichen Komplexes und somit ihrerseits auf einem anti-aufklärerischen Dualismus! Vielmehr gilt es anzuerkennen, dass der Dorfbewohner kein prämoderner, unterkomplexer Steinzeitmensch ist, sondern ein Zeitgenosse, dessen Welt nicht minder vielschichtig als „unsere“ ist.
Das Ritual der Maibaumentwendung ist keine stupide und sinnentleerte Erzeugung von unreguliertem Krawall. Vielmehr leisten die Maibaumdiebe einen substanziellen Beitrag zum Funktionieren des Systems und zur Stabilisierung der Gemeinschaft – und zwar auf genialische Art sowohl der innerdörflichen Gemeinschaft als auch der Gemeinschaft der Nachbardörfer.
Richtig ist zunächst, dass der Gebrauch einer feindlichen Sprache („Schweine“, bekannt ist auch der Gebrauch von Termini wie „Bauern“ und lokaler Kategorien wie „Gümpel“) und der Akt des Stammdiebstahls an sich als Kriegserklärung verstanden werden könnten. Im ritualisierten Kontext des 1. Mai jedoch fordern gerade die Wahl der aufrührerischen Sprache und Mittel diplomatische Beziehungen zwischen den Nachbarstämmen heraus.
Die Entwendung des Nachbardorf-Baumstamms selbst wird nämlich nicht von gewählten Vertretern der Dorfgemeinde übernommen, sondern von Jünglingen an der Schwelle zum Erwachsenenwesen: Sie agieren nicht „offiziell“, weshalb ihre Verletzung diplomatischer Regeln nicht auf den Häuptling, äh sorry, den obersten Repräsentanten der indigenen Gesellschaft zurückfällt.
Aufnahme von Gesprächen
Wenn es ihnen gelingt, den Maibaum von den Nachbarn („Schweinen“, „Bauern“) zu entwenden, hat sich ohne Zwischenstufe die oberste Repräsentanz als Schlichtungsinstanz einzuschalten; der in modernen Gesellschaften gepriesene „kurze Weg“ wird hier beschritten: Vom obersten Repräsentanten des bestohlenen Dorfs, dem „Bürgermeister“, wird die Aufnahme der Gespräche erwartet. Er muss den Baum gegen einen Kasten Bier auslösen. Verweigert er sich, droht ihm der Ausschluss aus dem Rathaus bei der nächsten Wahl.
Diebstahlsdelikte werden in den kapitalistisch geprägten Dorfgemeinden zwar generell kriminalisiert. Im Fall eines Maibaumklaus aber hält sich die Polizei im Wissen um die Sinnhaftigkeit des nur gewalttätig wirkenden Treibens mit der Strafverfolgung zurück. Sie erkennt damit an, dass die Jugend in einem rituellen Akt die stabilisierende Aufgabe übernimmt, die Demokratie und also das ganze System auf Mark, Nieren und Leber zu testen.
Es kann also festgehalten werden, dass jugendliche Kapuzenpulloverträger, vermeintliche „Chaoten“ (eine Fremdzuschreibung, die sie sich im Rahmen der Performanz ihrer Identitäten selbst aneignen), in Wahrheit als „Anti-Chaoten“ in dem Sinn auftreten, dass sie durch reguliert anarchisches Treiben Prozesse der Meinungsbildung über die Autoritäten befördern.
Wir müssen uns die Jugend, die am 1. Mai ihr vermeintlich sinnentleertes Ritual ausübt, als politisch vorstellen.
Kommentare 10
Ich habe gerade mal aus dem Fenster geschaut: Unser Maibaum steht noch auf dem Dorfplatz. So ein Maibaum steht in jedem Dorf unserer Gegend.
Ihre soziale Theorie scheint bei den "Burschen" gänzlich unbekannt zu sein, ich habe noch nie davon gehört, dass jemand den Maibaum klaut. Das ist technisch auch kaum vorstellbar. So ein Maibaum ist 40...50m hoch und kann inmitten von Häusern nicht einfach gefällt werden. Auch für den Abtransport wären beachtliche technische Voraussetzungen zu schaffen. In der "kapitalistischen" Dorfgemeinschaft gibt es zwar auch einige Kleinunternehmer mit Radlader, Rücketraktor und Sattelschlepper, aber die sind alle über das Jünglingsalter hinaus. Ob die bei ihrer geringen Eigenkapitalquote die Technik für archaische Raubzüge zur Verfügung stellen kann, ist noch nicht hinreichend validiert.
Mein Nachbar, um die 70, ist "Ehrenbursche" und im Vorstand des Burschenvereins - ich werde ihm Ihre Theorie mal unterbreiten und sehen ob diese die dörflichen Massen ergreift.
Im etwas weiteren historischen Blick, stellt sich anhand Ihres Beitrages die Frage: Gibt es eine revolutionäre Theorie, die irgendeinen revolutionären Masser interessiert? Die "LINKE" schenkt heute zum 1. Mai vor dem Kurhaus Freibier aus.
Prost!
Es ist sehr wohl technisch möglich einen Maibaum zu klauen. Die Maibäume werden auch nicht gefällt, sondern (wenn es gelingt) vor dem Aufstellen aus dem meist gut bewachten und geheimen Versteck entwendet. Die "beachtlichen technischen Vorraussetzungen" sind die tägliche Arbeit der meisten Bauern, denn die meisten Landwirte besitzen auch Wald den sie bewirtschaften und die passenden Maschinen dazu. In einer Gruppe mit 20-25 Burschen besteht die Leistung nicht unbedingt darin den Baum abzutransportieren, sondern vielmehr dies unbemerkt zu tun. Dazu ein Aktueller Fall : www.all-in.de/nachrichten/allgaeu/buchloe/Buchloe-maibaum-amberg-honsolgen-landjugend-brauchtum-Maibaum-in-Amberg-von-Honsolgener-Landjugend-gestohlen;art2774,961832
Spannend und sinnlos. Gefällt mir.
@Rapanui Es gibt regionale Unterschiede, welche in der Betrachtung zweifellos genauestens berücksichtigt werden müssen, falls jemand dereinst mal eine Dissertation zum Thema anfertigt.
Es verhält sich dergestalt, dass Bäume sowohl bereits durch Handanlegen als geklaut gelten können (weil es von den Beschützern des eigenen Baums nicht verhindert wurde, haben die Maibaumdiebe symbolisch ihren Raubzug vollendet und damit gewonnen), sie können darüber hinaus vor der Errichtung gestohlen werden, aber durchaus auch äxtisch entwendet werden. Da keineswegs jeder Maibaum 40 bis 50 Meter hoch ist, ist dies durchaus im Rahmen des Möglichen.
Üblicherweise werden sie in Dörfern, in denen sie nicht vor der Errichtung entwendet, sondern vom Marktplatz gestohlen werden, bereits VOR dem 1. Mai geklaut, oft genug allerdings in der Nacht vorher, die datumstechnisch ja auch schon in den 1. Mai hineinschwappt, weshalb mir die Bezeichnung 1.-Mai-Ritual nicht abwegig schien.
Desweiteren differenzieren muss man natürlich unbedingt zwischen Fichten und Birken. Zwischen entasteten und nicht entasteten Maibäumen. Zwischen Maibäumen, die gestrichen sind, und Maibäumen, die nicht gestrichen sind. Zwischen Bierkästen und Brotzeit mit Fassbier als Auslöse. Und zu erwähnen wäre noch, dass ein Maibaum, der entwendet wurde, sich aber noch im Hoheitsgebiet seines Dorfs befindet, häufig zurückgegeben werden muss, wenn die Diebe darin gestellt werden. Allerdings – schau an – nicht überall immer.
@Rapanui Es gibt regionale Unterschiede, welche in der Betrachtung zweifellos genauestens berücksichtigt werden müssen, falls jemand dereinst mal eine Dissertation zum Thema anfertigt.
Es verhält sich dergestalt, dass Bäume sowohl bereits durch Handanlegen als geklaut gelten können (weil es von den Beschützern des eigenen Baums nicht verhindert wurde, haben die Maibaumdiebe symbolisch ihren Raubzug vollendet und damit gewonnen), sie können darüber hinaus vor der Errichtung gestohlen werden, aber durchaus auch äxtisch entwendet werden. Da keineswegs jeder Maibaum 40 bis 50 Meter hoch ist, ist dies durchaus im Rahmen des Möglichen.
Üblicherweise werden sie in Dörfern, in denen sie nicht vor der Errichtung entwendet, sondern vom Marktplatz gestohlen werden, bereits VOR dem 1. Mai geklaut, oft genug allerdings in der Nacht vorher, die datumstechnisch ja auch schon in den 1. Mai hineinschwappt, weshalb mir die Bezeichnung 1.-Mai-Ritual nicht abwegig schien.
Desweiteren differenzieren muss man natürlich unbedingt zwischen Fichten und Birken. Zwischen entasteten und nicht entasteten Maibäumen. Zwischen Maibäumen, die gestrichen sind, und Maibäumen, die nicht gestrichen sind. Zwischen Bierkästen und Brotzeit mit Fassbier als Auslöse. Und zu erwähnen wäre noch, dass ein Maibaum, der entwendet wurde, sich aber noch im Hoheitsgebiet seines Dorfs befindet, häufig zurückgegeben werden muss, wenn die Diebe darin gestellt werden. Allerdings – schau an – nicht überall immer.
Hallo Klaus Raab,
bei uns in der Gegend werden die Maibäume zu Pfingsten gesetzt, dieses Jahr wird der Maibaum ein Junibaum. Das wichtigste am Maibaum ist das Bier. Wäre der Maibaum weg, fällt man halt einen neuen, käme ein Bierfass weg, wäre das wirklich ein Problem. Maibaum kostenlos, Bier kostet.
Außerdem gibt's "Grasalarm", dann müssen alle Burschen einen Pfefferminzlikör trinken und derjenige, der beim Burschenball die meisten schafft wird der "Pfefferminzprinz".
Wir müssen uns die Jugend, die am 1. Mai ihr vermeintlich sinnentleertes Ritual ausübt, vor allem als Trinker vorstellen.
Gilt auch für das Stadtritual, laut taz-Live-Ticker vom 1. Mai, 22.34 Uhr: "Die meisten der vielen Menschen, die am Kottbusser Tor stehen, haben schwer einen im Tee und picheln fröhlich weiter. So richtig politisch sieht das nicht aus."
Handauflegen am Maibaum?
Also eine Art Counterstrike Capture-the-Flag-Duell ohne Computer?
Fördert das Maibaumritual als Killerspiel dann nicht Gewalt und Amokläufe?
Aufstand Deutschland
Stadt und Land
Hand in Hand
Bier am Stand
Glas mit Pfand
Baum mit Band
Weiße Wand
»[Die Dorfbewohner] agieren auf den ersten Blick als selbsternannte Repräsentanten des Eigenen gegen das imaginierte Fremde; als Vertreter der in sich abgeschlossenen und veränderungsresistenten Kultur ihres als homogen wahrgenommenen Dorfs.«
Und worin genau unterscheiden sich nun die belächelten Dorfbewohner von den Heimatschutzkommandos und Kiezmilizen der Gentrifizierungsgegner? Auch die wollen schließlich ein als homogen gesetztes Milieu bewahren gegen Veränderung bewahren — und das gerne auch mal sehr militant.
Ich kann nun aber nicht erkennen, warum der Protest von Zonen-Gabi aus Hohenschönhausen für die Konservierung ihrer Platte »kreativ-konstruktiv« sein soll, während man den Leingschwendtner Maxe und sein Maibaumritual als archaisch-vorgestrig anstreicht.