Die Gabel, als Problem betrachtet

Ritual der Woche Wenn ein neuer Keim auftaucht, heißt es: Hände waschen! Das Dumme ist nur: Man tut es ja doch nur, wenn es ritualisiert stattfindet. Also müssen wir es ritualisieren

Das Essen mit der Hand gerät in der Risikogesellschaft immer mal wieder in Verruf. Stichworte: Zugtoiletten, Viehzucht, verschlungene Vertriebswege, Keime, Viren. Aber irgendwie scheint der mitteleuropäische Mensch nicht auf regelmäßige Handhygiene ausgelegt zu sein. In der Theorie, ja, da schon, die Theorie steht auf einschlägigen Webseiten, die immer zitiert werden, wenn die Hand als mutmaßliche Krankheitsschleuder ausgemacht wird: Jedem Essen und jeder Essenszubereitung sollte eine Handreinigungsprozedur vorausgehen. Nass machen, lange einseifen mit Seife oder vergleichbarem Handreinigungsmittel, rubbeln, gut abspülen, mit sauberem Handtuch abtrocknen.

Das Problem ist nur: Das ist Theorie. In der Praxis fehlen die Hygiene- und Pflegerituale – Sauberkeit ist tendenziell Privatsache.

Im Restaurant

Nehmen wir ein richtig feines Essen, mit Stoffservietten, vier verschiedenen Gabeln und nur einem winzigen Klecks Sauce: Nicht einmal bei einem solchen Essen gibt es im mitteleuropäischen Kulturraum ein Waschritual, das die Reinheit der Hände aller Beteiligten garantiert. Mancher kommt ja gelegentlich in das Vergnügen, fein essen gehen zu müssen. Die Frage, die man sich dann als Neuling stellt, lautet aber immer: Welche Gabel ist als nächstes dran? Und nie: Wo ist das Waschbecken? Was die Gabelwahl betrifft: Man kann es mit der Frau halten, die Julia Roberts in Pretty Woman spielte – Zinken zählen, das beruhigt. Und als Faustregel: von der äußersten zur innersten Gabel vorarbeiten.

Viel zu wenig beachtet wird aber, dass man erst dann als wirklich bewandert im fachmännischen Nahrungsmittelverzehr gelten kann, wenn man weiß, was man gerade nicht mit der Gabel isst, sondern mit der Hand. Die Antwort, die der Film Pretty Woman gibt, lautet: belegte Brote. In die Hand nehmen und reinschieben. Vom notwendigen Händewaschen aber ist im Film nie die Rede, es wird verschwiegen; verschämt verklärt zum Näschenpudern. Immerhin: Seife wäre in diesem Fall vorhanden.

Im Epizentrum des Lebens

Es gibt aber Situationen, in denen man weder Seife noch vergleichbares Handreinigungsmittel zur Hand hat. Das Picknick-Gelage im Park ist eine solche Situation.

Auch wenn die Notwendigkeit des guten Händewaschens theoretisch allen bekannt ist, sieht die Praxis hier, im Epizentrum des Lebens, so aus: Man kommt mit dem Fahrrad, schwitzt, nimmt das Essen mit der Hand aus der Tupperdose, bevor man den Hund streichelt. Man schnitzt mit der an der Hose abgeriebenen Survivalmesserklinge am Käse herum und reicht dann den Laib in die nächste Hand weiter. Das Leben ist ungefähr so keimfrei wie ein Picknick.

Auch hier gibt es, wie im Restaurant, im Grunde kein Ritual, das einen auf die Idee bringt, man könnte ja nochmal eben Hände waschen gehen. Jeder müsste auf eigenen Antrieb losziehen, um Wasser zu finden. Macht keiner. Vielleicht hat jemand feuchte Tücher.

Das Waschritual

Ein Blick in die weite Welt, nach Sansibar, zeigt aber, dass Handhygiene eben doch möglich ist, wenn sie ritualisiert stattfindet und ins Sozialleben eingebettet ist.

Das Beispiel einer Hochzeitsgesellschaft auf dem Land: Das Picknick und das feine Essen werden dabei quasi kombiniert – man isst, am Boden im Kreis um die Nahrungstöpfe sitzend, piekfein mit der bloßen Hand. Das Händewaschen findet ebenfalls kollektiv statt – wer ausschert, wird wahrscheinlich beäugt, aber das ist Spekulation, es schert ja niemand aus.

Also, das Hochzeitsessen: Die besten Kleider hatte ich angezogen, die feinsten Stoffe, die mein Traveller-Rucksack hergab. Hose aus Stoff statt der ewigen Jeans, ein weißes Hemd, frisch gewaschen, die guten Schuhe statt der nicht ganz so guten. Ich fiel nicht auf, jedenfalls nicht negativ, jedenfalls nicht wegen der Wahl meiner Kleidung. Das war gut. Hochzeit auf dieser kleinen Insel im Indischen Ozean ist, wenn sich alle schön anziehen. Da will man nicht aussehen wie irgendein dahergelaufener Postmaterialist, nur weil man zufällig aus Mitteleuropa kommt.

Doch dann kam das Essen, und ich saute mich von oben bis unten ein, wie ein Kleinkind, das gerade den Umgang mit Löffelchen und Gäbelchen lernt. Und ich hatte kein Lätzchen.

Manche Dinge kann man in einer neuen Gesellschaft einfach so akzeptieren und unter Umständen mitmachen: Man kann es hinnehmen, dass am Valentinstag die ganze Umgebung damit beschäftigt ist, Ketten-SMS mit Glückwünschen weiterzuleiten. Man kann die Abwesenheit von Recyclingtonnen hinnehmen und seinen Müll wie alle anderen einfach auf die Straße werfen, um am nächsten Morgen dann die Straße zu kehren. Aber sittliches Essen – mit der bloßen Hand – muss man mühsam lernen.

Sauberkeit mit der Kanne

Es gab Reis mit gekochtem Gemüse und Fleischstückchen, angerichtet auf großen Platten, um die herum auf Teppichen die Gäste in Fünfer- oder Sechsergruppen saßen. Alle aßen vom selben Teller, alle mit der rechten Hand. Fachleute können das ohne Verlust eines einzigen Korns, aber nur die.

Es gilt, damit die Zufuhr von Reis gelingt, mit der Handfläche eine Mulde zu formen, diese mit dem noch heißen Nahrungsmittel aufzufüllen, selbiges durch leichten Druck im Faustinneren zusammenzupressen und den so entstandenen Nahrungsballen mit dem Daumen aus der Mulde über die Finger in den Mund zu schieben.

Eine Kunst. Bleibt die Frage nach der Hygiene. Und die Antwort: Das Waschen findet statt. Vor dem Essen reinigen sich alle Gäste ebenso gemeinschaftlich die Hände, wie sie später essen. Der Koch, ein Gastgeber – irgendjemand – geht mit einer Kanne durch die Reihen und übergießt die rechte Hand jedes Gastes mit Wasser; aufgefangen wird es in einem kleinen Becken. Das garantiert noch keine Keimfreiheit, aber es ist eine Idee.

Was können wir also mitnehmen in unsere mitteleuropäische Keimzone? Dies: Um Hände waschen zu lernen, um das Händewaschen wirklich nie zu vergessen, muss man gemeinschaftlich mit der Hand essen lernen. Vielleicht sollten wir mal überlegen, Messer und Gabel wegzuwerfen.

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