Ganz unten? Vielleicht, mal sehen

Demontage Günter Wallraffs Lebenswerk scheint in Gefahr. Immer neue Vorwürfe werden gegen den Investigativreporter erhoben

Der Mann, der der Gerechtigkeit ein Gesicht gegeben hat, müsste jetzt nur noch einer Discounter-Kassiererin das Portemonnaie klauen und unter einem Geheimnamen eigentlich Top-Manager einer global agierenden Schmuddelbank sein, dann wäre die Ratlosigkeit perfekt.

Kann das wirklich sein? Ausgerechnet er bezahlt Mitarbeiter schwarz und schlecht? Hat Ärger mit dem Fiskus? Beutet Mieter seiner Immobilien aus? Hat eidesstattliche Versicherungen gefälscht? Ausgerechnet Günter Wallraff?

Mal angenommen, all das, was in diesen Tagen über den Mann kolportiert wird, würde tatsächlich zutreffen, hat dann vielleicht Mutter Teresa auch ein Bordell betrieben und die Gewinne in Waffen investiert? Das ist die eine Frage. Die stellt man sich sofort, wenn man liest, was die Zeitungen im Moment alles über Wallraff ausbreiten. Die andere Frage ist: Wenn – was nicht erwiesen ist – alles stimmte, was genau würde das eigentlich ändern?

Seine Methode: Er schleicht sich ein

Günter Wallraff ist Deutschlands bekanntester Investigativjournalist, berühmt geworden als Mann mit den vielen Gesichtern: Er hat unter dem Namen Hans Esser bei Bild gearbeitet und enthüllt, wie es dort zugeht. Er hat als Türke Ali auf dem Bau Stunden geschrubbt. Er hat als Obdachloser gelebt und war Mitarbeiter im Callcenter, bei einem Postzustelldienst und in einer Großbäckerei.

Er legt, das ist seine Methode, durch seine eigene Verhüllung Zustände offen. Er schleicht sich ein. Das ist zurecht umstritten, denn er ermittelt in einer methodischen Grauzone, und nicht jeder, der weniger weit ginge als er, ist ein Feigling. Manchem ist auch einfach die Show zu viel und der Investigationskarneval, der bisweilen das behauptete Erkenntnisinteresse überlappt: Alltagsrassismus entlarven wie im Film Schwarz auf Weiß, für den Wallraff sich als Kwami Ogonno verkleidet – sich also schwarz anpinselt –, das ist ehrenwert. Aber die dabei immer mitschwingende Prämisse, wer schwarz ist, sei ein Opfer, die ist ein in Kauf genommener Kollateralschaden, eine Frechheit. Dennoch, Wallraff ist im Lauf der Jahrzehnte als Aufklärer zu einer Marke geworden. Jeder zweite Jungjournalist nennt ihn bis heute als Vorbild. Das liegt daran, dass der 69-Jährige wohl noch nie eine Zeile geschrieben hat, mit der er nichts erreichen wollte. Er trat in seinen Arbeiten, auch wenn nicht alle grandios sind, stets als Ankläger von Missständen auf und verteidigte die Opfer. Das klingt schwarz-weiß und ist es oft. Aber mit diesem Robin-Hood-Boulevardjournalismus erreichte Wallraff tatsächlich Millionen – was man nicht von jeder graumellierten Analyse behaupten kann. Er emotionalisiert. Er arbeitet auf eine Leserreaktion hin, die lautet: „Hab‘ ich‘s doch geahnt.“ Wallraff, das ist das Geheimnis seiner Popularität, verwandelt Glauben in Wissen.

Wem nützt Wallraffs Demontage?

Natürlich hat so einer Feinde – wie alle Journalisten, die unbequeme Recherchen vornehmen. Dass die Vorwürfe nun so massiert auftreten, macht deshalb erstmal stutzig. Hat er einen Mitarbeiter schwarz beschäftigt, während der Hartz IV bezog? Behandelt er wirklich Mieter seiner Immobilien schlecht? Nimmt er lieber Bares, als Rechnungen zu schreiben? Und wer hilft ihm beim Schreiben, ihm, dem Bestsellerautor, von dem es heißt, richtig gut schreibe er selbst gar nicht?

Wallraff habe, er soll, es kursiert das Gerücht: Aus einem großen Tratsch-Pool werden gerade alle skandalisierbaren Geschichten zugleich gefischt, auch wenn sie schon seit Jahren darin lagen. Wichtig ist dabei die Frage: Wem nützt Wallraffs Demontage? Was sind die Motive? Wer will sich womöglich rächen? Wer will auf Kosten Wallraffs vielleicht seine eigene Reputation wiederherstellen? Welcher Mitarbeiter ist beleidigt, weil Wallraff eine große Nummer und ein gutverdienender Mann ist und er selbst nicht?

Fakt ist, dass sich nicht nur Kritiker, sondern nun auch viele Verteidiger Wallraffs zu Wort melden. Wallraffs langjähriger Mitarbeiter Günter Zint etwa sagt, er sei nie ausgebeutet worden: „ Ich weiß aber leider von mehreren Zuträgern, die anfangs aus politischer Überzeugung und aus Idealismus mitgearbeitet haben, später aber plötzlich immense Summen gefordert haben, als das Buch ein Bestseller wurde.“ So sagt die Kritik am „Ausbeuter Wallraff“ womöglich auch einiges über die vermeintlich Ausgebeuteten.

Fakt ist allerdings auch: Die Staatsanwaltschaft Köln prüft gegen Wallraff den Verdacht des Vorenthaltens von Arbeitnehmerentgelt, der Beihilfe zum Sozialleistungsbetrug und des Prozessbetrugs. „Prüft den Verdacht“ heißt nicht: „klagt an“. Es heißt aber auch nicht: „alles nachweislich erlogen“. Im Grunde kann man nur sagen: Man wird sehen.

Die Vorwürfe sind schwerwiegend

Was aber, wenn sich einige Vorwürfe als richtig herausstellten? Wallraff steckt etwa in einem Rechtsstreit mit der Bäckerei, in der er als Niedriglöhner arbeitete, um zu zeigen, dass man dort unter unwürdigen Bedingungen schuftet. Die Anwälte des Bäckers behaupten, Wallraff und seine Mitstreiter hätten eidesstattliche Versicherungen von Bäckereiarbeitern gefälscht und Blanko-Dokumente selbst ausgefüllt. Ein Wallraff-Mitarbeiter, der mit ihm zerstritten ist und nun laut Spiegel dem Anwalt der Bäckerei „Einblicke“ gewährt, sagt gar, er habe dafür eine Unterschrift gefälscht.

Geschah all das, falls es geschah, in Günter Wallraffs Auftrag? Oder ohne sein Wissen? Falls die Vorwürfe stimmen, hätte Wallraff jedenfalls nicht auf irgendeinem Nebenschauplatz, auf einem Tratsch-Gebiet versagt, auf dem die Beurteilungskriterien manchmal recht weich sind, sondern auf dem Gebiet, das er als sein ureigenes markiert hat: bei der Recherche. Das wäre gravierend. Wäre.

Es würde bedeuten, dass der Mann, der Glauben in Wissen verwandeln zu können schien, es doch nicht könnte. Würde.

Die Staatsanwaltschaft Köln prüft gegen Wallraff den Verdacht des Vorenthaltens von Arbeitnehmerentgelt, der Beihilfe zum Sozialleistungsbetrug und des Prozessbetrugs

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