Morgen ist ein Anachronismus

Netzgeschichten Das Netz amüsiert sich über Neutrino-Witze und nackte Hintern in Scarlett-Johansson-Pose. Profilneurose, ick hör' dir trapsen – oder geht es um etwas anderes?

Achtung, hier kommt der in den vergangenen Tagen wahrscheinlich meist­erzählte Witz der Welt: „Neutrino!“ – „Wer ist da?“ – „Klopf, klopf.“

Neutrinos sind Elementarteilchen, und als sie kürzlich vom europäischen Kernforschungszentrum CERN in Genf ins italienische Forschungslabor INFN in Gran Sasso geschossen wurde, kam nach 15.000 Messungen etwas (relativ) Unmögliches heraus, unmöglich im Sinn von: wusste nicht mal Einstein. Und zwar: Neutrinos bewegen sich etwas schneller als das Licht.

Beinahe ebenso schnell wurden in der Folge Neutrino-Witze durchs Netz geschossen – auf Englisch, Spanisch, Deutsch – vornehmlich über Twitter, und alle mit der gleichen Pointe: Die lineare Abfolge von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ist auch nur ein Anachronismus. Beispiele: „Um auf die andere Seite zu kommen. Warum überqueren Neutrinos die Straße?“, „Schluss mit den Neutrino-Witzen, die habe ich alle nächste Woche schon gehört“, „Neutrinowitze sind sowas von 2014.“

Scarlettjohanssoning

Das in den vergangenen Wochen meistnachgestellte Foto der Welt dürfte dagegen eines der Schauspielerin Scarlett Johansson sein, deren Smartphone angeblich gehackt wurde, wodurch Handyselbstporträts an die Öffentlichkeit gelangten, auf denen sie im Spiegel nackt von hinten zu sehen ist. „Scarlettjohanssoning“ heißt es, wenn nun User in Johansson-Pose ihre nackten Hintern ins Netz stellen. Es handelt sich, wie Kunsthistoriker dereinst einmal schreiben werden, um eine Variation des Planking, des Owling und des beliebten Retro-Trends Horsemaning. Planking, Owling, Horsemaning in dieser Reihenfolge: Fotos von Menschen, die auf Planken liegen, Fotos von Menschen, die in die Hocke gehen, Fotos von zwei Menschen, von denen einer den Rumpf, der andere den Kopf zeigt, so dass es aussieht, als wäre da jemand in die Guillotine geraten.

Was sich hier offenbart, ist aber weniger die Profilneurose des Einzelnen. Es ist wie schon bei den Chuck-Norris-Witzen, den LOLcat-Bildern, der kollektiven Fotosammlung der Dinge, die aussehen, als hätten sie ein Gesicht, bei der Erstellung der Wikipedia oder auch beim illegalen Download von US-Serien, auf die man nicht warten will, nur weil ZDFneo sie noch nicht synchronisiert hat – weil sie halt nun mal genau jetzt der Talk of the Town sind und nicht in zwei Jahren. Man erfüllt sich das Bedürfnis, den „Puls der geteilten Gegenwart“ zu spüren, wie es die Süddeutsche Zeitung kürzlich nannte: über nationale Grenzen hinweg am Austausch der Welt teilzuhaben. In Neutrinogeschwindigkeit.

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